Im Rahmen des Bundestagswahlkampfs wird ein Thema groß gemacht, das einfache Lösungen verspricht, aber komplexer ist als es scheint: Sprachstandstests. Warum es nicht ausreicht, zu testen, erläutert Gerhard Brand, Bundesvorsitzender der Lehrergewerkschaft Verband Bildung und Erziehung.
Der Eindruck der Lehrkräfte in der Grundschule ist, dass die neu eingeschulten Kinder immer heterogenere Voraussetzungen mitbringen. Das leuchtet ein: Während das eine Kind ein Frühchen war und körperlich gerade so den Anschluss an die Gleichaltrigen geschafft hat, werden andere Kinder aufgrund ihrer kognitiven oder sozial-emotionalen Kompetenzen zurückgestuft, sind aber physisch präsenter. Dass das Einschulungsalter in nur einer Klasse zwischen gerade noch 5 und fast 8 liegt, ist mittlerweile Normalität. Hinzu kommt, dass zugewanderte Kinder teilweise nicht ihrem Alter, sondern ihren Deutschkenntnissen entsprechend beschult werden. Das erweitert die Altersspanne weiter.
Doch nicht nur das Alter, die damit einhergehende emotionale Reife und die körperliche Präsenz sowie die kognitiven Fähigkeiten sind Heterogenitätsfaktoren. Auch das sprachliche Vermögen unterscheidet sich stark. Nicht verwunderlich ist, dass jene Kinder besonders geringe Sprachkenntnisse haben, die keine frühkindliche Bildungseinrichtung besucht haben und auch anderweitig wenig Berührung zur deutschen Sprache hatten (also zum Beispiel keine Krabbelgruppenbesuche, keine deutschen Verwandten, kein Vorlesen in Deutsch). In der Praxis zeigt sich jedoch, dass das nur eine sehr kleine Gruppe ist. Sorgen machen uns vor allem jene Kinder, die sehr wohl eine Kita besucht haben, aber trotzdem keine ausreichenden Sprachkenntnisse mitbringen. Das liegt mitnichten an der Arbeit des pädagogischen Personals! Denn mit den aktuell geltenden Betreuungsschlüsseln, unter dem akuten Personalmangel und mit unzureichenden Fortbildungen kann die notwendige Förderung einfach nicht geleistet werden. Das zeigte unser DKLK-Meinungstrend 2024. Die Kitaleitungen stehen vor riesigen Herausforderungen, Sprachbildung zu priorisieren – während gleichzeitig nicht einmal die Betreuung sichergestellt ist.
Das pädagogisch qualifizierte Personal vor Ort hatte natürlich schon immer den Sprachstand der Kinder im Blick. In den Bundesländern haben sich dann verschiedene Tests durchgesetzt (einen Überblick erarbeitete Bildung.table im Frühjahr des Jahres). Das Problem ist also nicht (und war es auch nie), dass nicht bekannt ist, wie es um die Fähigkeiten der Kinder steht. Das Problem ist, dass daraus keine Konsequenzen erwachsen. Wenn wir uns nun also in den Wahlprogrammen der Parteien zur Bundestagswahl immer wieder auf den Vorschlag stoßen, Sprachstandstests verpflichtend zu machen, ist das nur die halbe Miete. Sprachstandstests dürfen nicht um ihretwillen stattfinden. Sie binden Kraft und Ressourcen des pädagogischen Personals, sind aufwendig in der Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung. Umso ärgerlicher ist es, wenn die Ergebnisse nicht in echte Fördermöglichkeiten für das Kind münden. Oder noch schlimmer: Sie dürfen nicht dafür genutzt werden, um Kinder von einem Schulbesuch abzuhalten. Exklusion darf kein politisches Ziel sein!
Deshalb sagen wir vom Verband Bildung und Erziehung: Jede Forderung nach Sprachstandstests bleibt Makulatur, wenn nicht von vorneherein eine auf dem Testergebnis basierende Förderung gewährleistet werden kann.
Was also muss passieren? Es braucht ein Umdenken! Sprachstandstests müssen im Sinne der Chancengerechtigkeit die Integration von Kindern, deren bestmögliche Entwicklungsunterstützung und damit ihr Fortkommen im Bildungssystem im Fokus haben.
Das ist unter den aktuellen Umständen kaum möglich. Denn fehlendes Personal, zu hohe Betreuungsschlüssel, zu wenig Unterstützung durch weitere Professionen und zu geringe Investitionen in die Qualität der Kindertagesstätten erschweren die individuelle Förderung. Das muss sich ändern. Neben Personalgewinnungskampagnen, der angemessenen Bezahlung der Fachkräfte und einem attraktiven Arbeitsumfeld braucht es vor allem den Einsatz multiprofessioneller Teams und angemessener, qualitativ hochwertiger Fortbildungen.
Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) ist eine der größten Bildungsgewerkschaften Deutschlands mit rund 164.000 Mitgliedern. Als parteipolitisch unabhängiger Verband vertritt er die Interessen von Lehrkräften, Erzieherinnen und Erziehern sowie weiteren pädagogischen Fachkräften aus verschiedenen Bildungsbereichen. Seit Dezember 2022 führt Gerhard Brand, geboren 1962, den VBE als Bundesvorsitzender. Nach seinem Studium des Lehramts für Grund- und Hauptschulen an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg war er als Lehrer, Konrektor und Rektor tätig.