Friedo Scharf ist Sozialpädagoge und Mitgründer von Inklusion Digital und setzt sich für Inklusion an Schulen ein. (Quelle: Privat)
Wie kann Inklusion im Schulalltag erfolgreich umgesetzt werden, und welche Hürden müssen noch überwunden werden? Trotz der fortschreitenden Akzeptanz stehen Lehrkräfte in Deutschland oft vor großen Herausforderungen, wenn sie Inklusion im Schulalltag begegnen und diese mitgestalten sollen. Der Weg zu einer chancengerechten Bildung für alle Schüler:innen ist mit vielen Fragen und Unsicherheiten gepflastert. Um herauszufinden, wie Inklusion gelingen kann und welche Schritte notwendig sind, haben wir mit Friedo Scharf von Inklusion Digital gesprochen. Als Sonderpädagoge und Mitgründer von Inklusion Digital, die Macher der SPLINT-App, setzt er sich leidenschaftlich für ein inklusives Bildungssystem ein. Im Gespräch beleuchtet er nicht nur die bestehenden Probleme, sondern gibt auch wertvolle Einblicke und praktische Tipps, wie Lehrkräfte den Herausforderungen des inklusiven Unterrichts begegnen können.
Lehrer News: Sie setzen sich seit Jahren für ein chancengerechtes Bildungssystem und Inklusion an Schulen ein. Warum bewegt Sie dieses Thema so sehr?
Scharf: Ich war selbst Schüler einer Integrationsschule und als ich mich für das Sonderpädagogikstudium entschieden habe, war für mich klar, dass ich das tue, um mich auf ein inklusives Schulsystem einzusetzen, weil ich dachte, dass alles in Richtung Integration, wie man es damals noch nannte, gehen würde. Ich war dann erstmal irritiert, dass das noch nicht Konsens war und viele der damaligen Studierenden davon ausgingen, dass Inklusion nicht umsetzbar sei.
Seither hat sich viel geändert und die Akzeptanz für Inklusion in der Schule ist größer geworden, aber immer noch viel zu gering. Ich empfinde es als große Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft, dass Menschen aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit weniger zugetraut wird. Das ist meiner Meinung nach nur behebbar, wenn wir Begegnungsräume schaffen, in denen Menschen, mit unterschiedlichen Vorerfahrungen und Bildungsvoraussetzungen sich kennenlernen. Nur so können wir sicherstellen, dass eine Behinderung nicht gleich eine generalisierte Unfähigkeit bedeutet, an unserer Gesellschaft teilzuhaben.
Kinder sind sehr offen und neugierig. Wenn sie sehen, dass ein anderes Kind nur eine Hand hat oder ein Hörgerät trägt, sind sie interessiert, aber sehr schnell stehen in der Beziehung dann andere Dinge im Mittelpunkt. Deshalb sind Schulen und andere Bildungseinrichtungen die perfekten Begegnungsorte, um den zwischenmenschlichen Austausch zu fördern und Vorurteile abzubauen.
Lehrer News: In Deutschland ist es nach wie vor üblich, dass Kinder mit einer Behinderung auf Förderschulen geschickt werden. Halten Sie das für die beste Form, um den Kindern bestmögliche Zukunftschancen zu ermöglichen?
Scharf: Nein, ich halte das nicht für die beste Form. Ich halte es immer für die beste Form, wenn alle Kinder in der Schule in ihrer Umgebung beschult werden. Dort, wo sie den Kontakt zu Kindern haben, die sie vielleicht auch schon aus der Kita kennen. Die aber im Normalfall in der unmittelbaren Umgebung leben und mit denen man sich am Nachmittag auch treffen kann.
Gleichwohl weiß ich, dass in den Förderschulen sehr gute Arbeit geleistet wird und viele Schüler:innen sich dort wohlfühlen. Auf der individuellen Ebene ist das das Wichtigste, damit sich die Kinder bestmöglich entfalten können. Gesellschaftlich gesehen müssen wir aber feststellen, dass wir mit der Aussonderung von Schüler:innen in unterschiedlichen Schulformen aufgrund äußerlicher Merkmale, Parallelgesellschaften schaffen und eben Begegnungsräume verhindern.
Wenn ein Kind in der gleichen Straße wie ich aufwächst und dann vom Bus abgeholt wird und zwei Bezirke weiter in eine Förderschule gefahren wird, verliere ich den Kontakt zu dem Kind. Unweigerlich suche ich nach Gründen dafür. Und weil es in Deutschland immer schon Förderschulen gab, wird mir von allen Seiten versichert, dass eine gemeinsame Beschulung von mir und dem Kind, was da von dem Bus abgeholt wird, nicht möglich sei. Ich habe also gelernt, dass ich nicht mit diesem Kind in der Schule zusammenarbeiten kann. Diese Einstellung setzt sich schnell in den Köpfen von Kindern fest und prägt ihre Einstellung für das ganze Leben. Auch wenn sich ein Kind auf einer Förderschule sehr wohlfühlen kann, schaffen wir dadurch Begegnungsräume ab, die notwendig sind, um Vorurteile abzubauen.
Lehrer News: Welche Gründe hat es, dass es nach wie vor wenige Inklusionsschulen in Deutschland gibt und wie könnte sich das Ihrer Meinung nach in Zukunft ändern?
Scharf: Es gibt ja immer mehr. Trotzdem, ich glaube, das ist die logische Folge aufgrund der Historie unseres Bildungssystems. Ein Großteil der Menschen, die jetzt Entscheidungen darüber treffen, welche Schulen bleiben und welche Schulen wie ausgestattet werden, haben genau die Erfahrung gemacht, von der ich gerade gesprochen habe. Es fehlt die Vorstellungskraft dafür, dass inklusive Klassen genauso gut funktionieren können wie nicht-inklusive. Deswegen brauchen wir an einem Punkt einen radikalen Schnitt, damit wir gemeinsame Erfahrungen sammeln können.
Viele sagen zu Recht, dass unser Schulsystem eine Transformation im Moment nicht stemmen kann. Das liegt aber vor allem am Lehrkräftemangel und der chronischen Unterfinanzierung unseres Bildungssystems. Zu große Klassen, zu wenig evidenzbasierte Schulentwicklung und einen mangelnden Transfer von Bildungsforschung zu Bildungspraxis. Ein Viertel aller Schüler:innen der vierten Klasse können nicht richtig Lesen und Schreiben. Das ist an allen Schulen so, egal ob gemeinsamer Unterricht oder nicht. Es herrscht nur unter vielen Lehrkräften eine große Unsicherheit gegenüber der Inklusion. Weil noch immer zu wenige Lehrkräfte selbst aus dem gemeinsamen Unterricht kommen. Wenn wir aber zu einer inklusiven Gesellschaft wachsen wollen, dann brauchen wir an einer Stelle einen radikalen Schritt, damit wir erfahren können, dass Inklusion funktioniert.
Lehrer News: Der Lehrermangel sorgt dafür, dass Lehrkräfte ohnehin schon überlastet sind. Wie kann Inklusion im Unterricht trotzdem gelingen?
Scharf: Wir glauben es immer erst, wenn wir es mit unseren eigenen Augen gesehen haben. Ich höre oft von Lehrkräften, die sagen, dass die Integration von Kindern mit körperlichen Behinderungen kein Problem ist, weil sie damit bereits Erfahrung haben. Bei Kindern mit geistigen Behinderungen hingegen können sie sich das oft nicht vorstellen. Das zeigt, dass Akzeptanz häufig erst dann entsteht, wenn man selbst erlebt hat, dass etwas funktioniert.
Wenn es an Erfahrung fehlt, neigt man dazu, zu denken, dass etwas nicht funktionieren kann. Überlastung verstärkt diese Wahrnehmung. Deshalb müssen wir mehr Erfahrungen schaffen und mehr Begegnungsräume ermöglichen. So können Vorbehalte Stück für Stück abgebaut werden. Wir sollten uns von Pauschalaussagen verabschieden. Erstmal sollte man mit dem Kind und den Eltern sprechen und dann überlegen, welche Unterstützung es benötigt, um erfolgreich am Unterricht teilzunehmen. Erst danach können wir fundiert entscheiden, wie wir vorgehen.
Lehrer News: Welche Auswirkungen haben inklusive Klassen auf das Klassenklima und die Schulleistungen aller Schüler:innen?
Scharf: Die Befürchtung, dass inklusive Klassen die Leistungen der anderen Schüler:innen negativ beeinflussen, stimmt so nicht. Wir wissen aus der Forschung zwar, dass sich innerhalb einer Vergleichsgruppe ein Streben nach dem mittleren Leistungsniveau der Gruppe entwickelt. Es wird argumentiert, dass leistungsstarke Schüler:innen dadurch zurück zur Mitte gezogen werden, wenn das Leistungsniveau der Klasse insgesamt niedriger ist. Doch gesamtgesellschaftlich betrachtet hebt sich das durchschnittliche Leistungsniveau, wenn alle Kinder in einer Schule unterrichtet werden.
Das Wichtigste ist, dass die richtigen Methoden und eine angemessene Professionalisierung der Lehrkräfte vorhanden sind.
Lehrer News: Welche konkreten Tipps können Sie Lehrkräften mitgeben, die inklusive Klassen unterrichten?
Scharf: Es ist entscheidend, dass wir Lehrkräfte uns als Teamplayer verstehen. Wir arbeiten in einem System, das darauf abzielt, jeder Schüler:in den bestmöglichen Schulabschluss bzw. Lernerfolg zu ermöglichen. Das ist eine Teamaufgabe. Als Lehrkraft bin ich nicht nur Fachlehrer, sondern ich möchte die Schülerinnen und Schüler erfolgreich auf ihrem Lebensweg unterstützen. Dazu müssen wir als Lehrer zusammenarbeiten.
Außerdem können wir unsere Zielsetzung hinterfragen. Ich war neulich in den USA und durfte dort an einigen Schulen hospitieren. Es scheint dort Konsens zu sein, dass die Lehrkräfte sich zum Ziel setzen, ihre Schüler:innen mit mindestens einem Erfolgserlebnis aus dem Unterricht zu entlassen. Das halte ich für einen sehr wohltuenden Perspektivwechsel. Wenn ich mir als Lehrkraft vorrangig zu den fachlichen Zielen zum Ziel setze, Erfolgserlebnisse zu produzieren, dann entlasse ich selbstbewusste Schüler:innen, die am nächsten Tag wiederkommen und sich den Herausforderungen, denen sie begegnen, motiviert stellen. Das hilft am Ende auch dem fachlichen Fortschritt.
Übrigens, hier geht es nicht um reine Kuschelpädagogik. Ein Erfolgserlebnis ist kein unverdientes Gummibärchen vor der Pausenklingel. Ein Erfolgserlebnis ist ein Fortschritt, den ich mir erarbeitet habe. Das ist nicht einfach, aber es ist ein sehr gutes Gefühl. Manchmal erfordert das, dass in meinem Unterricht andere Maßnahmen als nur die fachlichen Ziele im Vordergrund stehen, um das Kind zu stärken.
Hier ist der Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen essenziell, um die Stärken der Schüler zu erkennen. Gerade weil die Klassen immer heterogener werden, ist es wichtig, dass wir uns als Teamplayer verstehen. Ein multiperspektivischer Blick auf die Kinder ist notwendig, nicht nur aus der Perspektive eines einzelnen Fachs. Auf diese Weise können wir die Kinder besser wahrnehmen, ihre Stärken akzeptieren und auch verstehen, wo sie sich Freiräume suchen.
Dieser Teamgedanke hat auch Einfluss auf unsere Professionalisierung. Der Austausch mit Kolleg:innen ist in der Pädagogik unerlässlich. Wenn ich sehe, was bei anderen Kolleg:innen gut funktioniert, kann ich daraus lernen und es in meinem eigenen Unterricht oder in der Beziehung zu meinen Schülern anwenden. Fortbildung bedeutet oft auch einfach Austausch. Daher mein wichtigster Tipp: Versteht euch als Teamplayer.
Lehrer News: Mit SPLINT haben Sie ein Programm geschaffen, das Lehrkräfte dabei unterstützt, Inklusion weiter voranzutreiben. Wie genau hilft SPLINT dabei?
Scharf: SPLINT versucht, die wichtigsten Herausforderungen im Unterricht zu vereinfachen.
Es geht darum, dass ich mir in dem Moment, in dem ich feststelle, dass ich einem:einer Schüler:in nicht gerecht werden kann, Hilfe bekomme, die mir genau dabei hilft. Dafür haben wir viele Beobachtungshilfen digitalisiert. SPLINT hilft auch dabei, die Potenziale der Schüler:innen zu sehen, damit ich sie unterstützen kann.
Außerdem unterstützt SPLINT dabei, im Team zu arbeiten. Wir vernetzen alle die multiprofessionellen Teams innerhalb der Schule miteinander und geben die Möglichkeit auch bestehende außerschulische Unterstützungssysteme einzubeziehen.
Und zu guter Letzt geht es darum, den Arbeitsaufwand zu erleichtern. Nachdem ich die richtigen Tipps erhalten habe und im Unterricht anwenden kann, löst SPLINT die Dokumentation automatisch. Auf Knopfdruck kann ich den Förderplan oder das Protokoll zum Nachteilsausgleich ausdrucken und fertig. Gerade testen wir endlich auch ein neues Modul, über das die Schüler:innen selbst mit in die Begleitung ihrer Ziele einbezogen werden können. Darauf freue ich mich riesig.
Lehrer News: Vielen Dank für das Gespräch!