Schule ab 9 Uhr: Ein Kommentar zum späteren Unterrichtsbeginn

Das Titelbild der Kolumne von Paul Messall

Schulbeginn zwischen 7:30 Uhr und 8 Uhr ist in Deutschland seit unzähligen Jahren gängige Praxis. Die Kinder und Jugendlichen sind dabei meist unausgeschlafen, die Konzentrationsfähigkeit hat noch nicht ihr Maximum erreicht und dementsprechend sind die Leistungen. Lehrkräfte kennen vielleicht das Bild, wenn ältere Schüler:innen mit einem Energydrink vor einem sitzen, um nicht einzuschlafen. Viele Menschen, unabhängig des Alters, sehen diese Konvention als veraltet an und fordern daher einen späteren Schulbeginn ab 9 Uhr. Auffällig dabei ist, dass mehrheitlich nur Vorteile genannt werden, seltener Nachteile, die aus den angeführten Vorteilen entstehen können. Schauen wir uns das Vorhaben einmal aus einer anderen Sicht an.

Frühes Aufstehen ist entgegen der Natur. Ja, tatsächlich ist das so. Am gesündesten ist es dann aufzustehen, wenn wir ausgeschlafen haben. Gesellschaftlich hat sich jedoch schon seit Jahrtausenden das frühere Aufstehen etabliert. Eigentlich liegt es dadurch doch auf der Hand, dass Unterrichtsbeginn ab 9 Uhr “gesünder” wäre, oder? Es klingt so einfach, birgt jedoch auch einen potenziellen Nachteil oder eher ein Paradoxon. Schauen wir uns einmal beispielhaft den Alltag einer Schülerin bzw. eines Schülers an. Morgens um 6 Uhr klingelt der Wecker, dann wird gefrühstückt, sich fertiggemacht und es geht zur Schule, die 8 Uhr beginnt. Die Schule ist an diesem Tag um 13.30 Uhr zu Ende. Es geht nach Hause und wird gegebenenfalls Mittag gegessen, wenn dies nicht schon in der Schule gemacht wurde. Danach werden die Hausaufgaben erledigt und für die nächste Arbeit gelernt. Vielleicht geht es dann noch zu einer außerschulischen Freizeitaktivität, beispielsweise Vereinssport oder Instrumentalunterricht. Wieder Zuhause ist es dann schon Abendbrotzeit. Der Abend klingt aus, indem die junge Person dann endlich vollwertig Freizeit hat: Freunde treffen, die Lieblingsserie weiterschauen oder dem Hobby nachgehen, einfach das machen, was einem gefällt. Um 23 Uhr geht die Schülerin bzw. der Schüler zu Bett. Ein ganz durchschnittlicher Tagesablauf für Kinder und Jugendliche, die im selben Ort wohnen, wo die Schule ist.

Jetzt nehmen wir einmal an, dass der Schulbeginn von 8 Uhr auf 9 Uhr verschoben wird, eine Stunde also. Dann ist der Unterricht dementsprechend ebenso eine Stunde später zu Ende, um 14.30 Uhr. Eine Stunde später sind die Lernenden ebenso mit Hausaufgaben und Lernen fertig. Auch die außerschulischen Aktivitäten sind eine Stunde später beendet. Es ist wahrscheinlich mittlerweile erkennbar, worauf dieses Beispiel hinaus soll. Der ganze Tagesablauf verschiebt sich um eine Stunde. Bei der Schlafenszeit gibt es folglich zwei Optionen. 

Die erste Option ist, dass die Jungen und Mädchen immer noch um 23 Uhr schlafen gehen, dann wird ihnen jedoch eine Stunde Freizeit an diesem Tag “gestohlen”. Warum gerade Freizeit? Das einzige, was an dem Tagesablauf der Kinder und Jugendlichen gekürzt werden kann, ist die Freizeit. Die Unterrichtszeit wird nicht gekürzt, auch die Menge an Hausaufgaben und Lernstoff bleiben gleich. Freizeitaktivitäten im Verein oder Ähnlichem könnten zwar aufgegeben werden, wäre jedoch für viele junge Menschen undenkbar. Zumal diese Aktivitäten zur Sozialisierung der Kinder und Jugendlichen beitragen. Also was ist das einzige, was gekürzt werden kann? Richtig, die Freizeit der Schüler:innen. Eine Stunde weniger, um Freunde zu treffen, Hobbys nachzugehen, einfach mal zu “chillen” und so weiter. Eine Stunde weniger für die individuelle Persönlichkeitsentwicklung.

Die zweite Option wäre, dass sich der Tagesablauf der Schüler:in aus dem Beispiel simpel um eine Stunde verschiebt. Anstatt, dass der Tag um 6 Uhr beginnt und 23 Uhr endet, startet er nun um 7 Uhr und endet um 0 Uhr. Die ansonsten fehlende Stunde wird beibehalten, außer die Eltern haben ein Auge darauf, was wahrscheinlich eher bei Eltern von Grundschüler:innen der Fall wäre.

Das Beispiel kann noch besser verdeutlicht werden, wenn einbezogen wird, dass zahlreiche Schüler:innen mit dem Bus zur Schule fahren. In ländlichen Regionen teilweise bis zu zwei Stunden täglich. Wenn diese Kinder und Jugendlichen dann sogar noch früher aufstehen, zwischen 4 Uhr und 5 Uhr oder sogar noch davor, bringt eine weitere Stunde Schlaf wahrscheinlich eher wenig, denn unausgeschlafen sind sie trotzdem. Wenn es ganz akkurat betrachtet wird, wären selbst die privilegierteren Schüler:innen ohne langen Schulweg weiterhin relativ unausgeschlafen, wenn trotzdem der Wecker in Gebrauch ist. Eigentlich gilt das doch sogar für alle Menschen, die mit Wecker aufstehen und nicht ausschlafen können. Kinder und Jugendliche im schulfähigen Alter haben laut AOK einen Schlafbedarf von acht bis elf Stunden in der Nacht. Wenn das erwähnte Buskind um 4 Uhr aufsteht, dann müsste es rechnerisch um 18 Uhr schlafen gehen, um auf die elf Stunden zu kommen. Bei einer Verschiebung um eine Stunde durch einen späteren Unterrichtsbeginn wäre dementsprechend ab 19 Uhr Schlafenszeit. Seien wir mal ehrlich, welche Jugendlichen gehen um diese Uhrzeit schlafen? Alleine der natürliche Biorhythmus sorgt dafür, dass Jugendliche um diese Uhrzeit noch hellwach sind. Normalerweise dürften diese Kinder neben Schule, Busfahrt und Hausaufgaben (wenn dafür überhaupt noch Zeit ist), keinerlei Freizeit mehr haben – in der Theorie. Natürlich, eine Stunde mehr Schlaf ist vielleicht schon ein sinnvoller Ansatz, aber die Problematik mit der Müdigkeit bleibt trotzdem bestehen. 

Freizeit haben diese Kinder und Jugendlichen sowieso schon weniger und wie in dem Beispiel, wäre diese Freizeit noch seltener oder sie wird sich selbstverständlich genommen. Gleiches gilt für Ganztagsschulen, an denen allgemein bereits ein späterer Schulschluss folgt. Wird dies noch mit der Busbindung verrechnet, müsste bald neben Mittagessen auch Abendessen an den Schulen angeboten werden. Die wenigsten Arbeitnehmer sind so lange an ihrem Arbeitsplatz. Auf ein Jahr gerechnet, würden je nach Bundesland rund 185 Stunden Freizeit gekürzt werden.

Das Beispiel zeigt auf, wie paradox ein späterer Schulbeginn sein kann. Es existieren jedoch noch weitere Nachteile und Probleme. Für die Eltern kann die Organisation der Betreuung ihrer Kinder zu Schwierigkeiten führen. Betroffen davon sind primär Eltern von Grundschulkindern, da die älteren Lernenden in den meisten Fällen bereits selbstständig schlafen gehen. Für die Lehrkräfte könnten sich ebenso Nachteile ergeben, denn ihr Tagesablauf verändert sich auch. Vor- und Nachbereitung des Unterrichts, Organisation, Gespräche, alles verschiebt sich um eine Stunde nach hinten.

Eine Stunde weniger Freizeit geht ebenso mit einer Stunde weniger Zeit für Freunde einher. Peeraktivitäten sind für Kinder und Jugendliche eine wichtige Grundlage für die Entwicklung und spätere Abnabelung von den Eltern. Langfristig kann dies zur Desozialisierung führen. Und nein, die Zeit in der Schule reicht dafür nicht aus, zumal dort im engeren Sinne nur die Pausen für Peeraktivitäten genutzt werden können und für persönliche Angelegenheiten, die besprochen werden, zu wenig Privatsphäre vorhanden ist. Allenfalls verlegen die Schüler:innen ihre Gespräche in den Unterricht.

Die Meinungen zu dieser Thematik sind weiterhin sehr differenziert. Als ich einst eine Klasse befragt hatte, waren die Kinder zunächst sehr von der Idee angetan, eine Stunde länger schlafen zu können. Als ich ihnen erklärte, dass die Schule dadurch ebenso eine Stunde später beendet ist, so wie der gesamte Tagesablauf, haben die meisten Kinder ihre ursprüngliche Meinung geändert. Auch andere Lehrkräfte haben bei dieser Frage ähnliche Reaktionen der Schüler:innen erhalten. Höhere Klassenstufen lehnen oft die Idee des späteren Unterrichtsbeginns von Anfang an ab, da sie ebenso den Nachteil erkennen. Ihnen ist es wichtiger, genügend Zeit für Hobbys, Freunde und für sich selbst zu haben.

Eine Lösung, zumindest gegen zu starke und ungesunde Müdigkeit, wäre der Schulbau in ländlichen Regionen. Damit wäre unter anderem das Problem der langen Schulwege behoben. Bekannt ist jedoch auch, dass der Schulbau schleppend vorangeht, sogar eher das Gegenteil ist der Fall, Schulen werden im ländlichen Raum geschlossen, weshalb hier in näherer Zukunft nicht mit einer Besserung zu rechnen ist.

Eine weitere Möglichkeit, die sich bereits an einigen freien Schulen bewährt hat, ist der flexible Unterrichtsstart. Flexibler Unterrichtsbeginn bedeutet, dass die Schüler:innen innerhalb eines Zeitrahmens zur Schule kommen, beispielsweise zwischen 7 Uhr und 10 Uhr. Dies wäre auf der einen Seite bedürfnisorientiert gegenüber dem Biorhythmus der Schüler:innen und entgegenkommend für die Eltern. Die Herausforderung besteht jedoch in der Umsetzung dieser unkonventionellen Methodik. Das jetzige Schulsystem ist bereits jetzt viel zu überholt. Hinzu kommt Lehrkräftemangel und fehlende Ausstattung der Schulen, primär im digitalen Bereich. Digitale Medien könnten bei einer ausgeklügelten Planung die Lehrkräfte entlasten und diese Unterrichtsmethodik als Ergänzung unterstützen. Mit weiteren Herausforderungen wäre womöglich bei dem Schulweg zu rechnen, da die Organisation der Busse zu Schwierigkeiten führen kann.

Dieser Beitrag soll keinesfalls bedeuten, dass ein späterer Unterrichtsbeginn schlecht ist. Sicher würde sich diese Veränderung für einige Schüler:innen positiv auswirken. Jedoch sollten die möglichen Folgen nicht außer Acht gelassen werden. Ein späterer Schulbeginn ist bisher an relativ wenig Schulen geprobt worden, weshalb es diffizil ist, voreilig Schlüsse zu ziehen. Auch die Schüler:innen sollten in diese Diskussion mehr involviert werden, denn um sie geht es in dieser Angelegenheit. Schlussendlich geht es darum, eine gesunde Lösung für die Lernenden zu finden, obwohl dies wahrscheinlich noch lange auf sich warten lassen wird.

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Paul Messall
Mehr als 20 Millionen Bildungsakteure leben in Deutschland – das sind ein Viertel der Gesamtbevölkerung. Entweder sind sie als Rezipienten oder als Mitarbeitende Teil des Schulsystems. Umso wichtiger ist die Aufgabe der Bildungspolitik, diesen Bereich vernünftig zu gestalten und weiterzuentwickeln. Aber Überraschung! Nicht immer wird sie dieser Aufgabe gerecht. Wie viele andere Mitwirkende am Schulsystem musste ich häufig Erfahrungen mit fragwürdigen Entscheidungen, Gesetzen und Positionen der Bildungspolitik machen. Oft kommen die zu kurz, die das System Schule und Bildung überhaupt als Ganzes bilden. Auf meiner Expedition von Schule und Abi, über das Lehramtsstudium bis hin zum Bildungsaktivisten, habe ich das Schulsystem in Deutschland von einer anderen, komplexen Seite kennengelernt. Gerade diese Erfahrungen motivieren mich, zum Berichten von Themen, über die meist geschwiegen wird. Ein Dozent sagte damals zu mir: „Sie können sowieso nichts ändern.“ – Das wollen wir doch mal sehen.
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