Wenn man Lehrer werden will, es aber nicht darf – Ein Jahr später…

Ein Mann in Winterkleidung steht neben dem Titel „Der kritische Blick: Bildung und System“ mit Lupe als Symbol für kritische Betrachtung.

Nun ist es genau ein Jahr her, als ich meinen ersten Beitrag für Lehrer News verfasste. Damals schrieb ich über meine ausweglose Situation, Lehrer werden zu wollen, trotz aller Steine, die mir aufgrund meiner Sehbehinderung in den Weg gelegt wurden. Das Feedback war für mich überwältigend. Ich denke, jetzt ist es an der Zeit, ein Update zu geben.

Alte Kamellen, keine Lösung

Um die Frage, ob ich denn mittlerweile Lehrer wäre bzw. mein Referendariat absolvieren dürfte, zu beantworten: Nein. Im Februar 2024 war mein Fall Thema bei einer Sitzung des Ausschusses für Jugend, Bildung und Familie. Davon habe ich aber erst einige Monate später erfahren. Dabei wurde die aktuelle Bildungssenatorin Berlins, Katharina Günther-Wünsch, auf meine Lage angesprochen. Es war zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt, dass sich mehrere angehende Lehrkräfte in Berlin in einer ähnlichen Situation befinden. Dass sich meine Situation vorrangig auch aus meiner Behinderung ergibt, wurde bei der Sitzung leider nicht erwähnt, auch wurde ich nicht eingeladen. 

Eine Marzahner Bildungspolitikerin versuchte ebenfalls, mir zu helfen. Sie telefonierte sogar mit der Bildungssenatorin persönlich, eine Möglichkeit, die ich mir nach all der Zeit auch gerne gewünscht hätte. Bei diesen Telefonaten gab die Senatorin laut der Marzahner Politikerin an, eine Lösung für alle Betroffenen finden zu wollen. 

Ende 2024, knapp ein Jahr nach dieser Sitzung, dachte ich mir, dass ich einfach mal beim Sekretariat der Bildungssenatorin nachfrage, was denn nun die Ergebnisse dieser angesprochenen „Prüfung“ wären oder ob es denn inzwischen eine „Lösung“ für die Betroffenen gibt. Selbstverständlich hat mir die Senatorin nicht selbst geantwortet. Ein ungeschriebenes Blatt dürfte ich für sie eigentlich nicht mehr sein. Nach all der Zeit und all dem Einsatz hätte ich eigentlich erwartet, dass sie sich, wenn auch kurz, persönlich bei mir meldet.

Aber, wie erwartet, erhielt ich nach langem Warten und mehrmaligen Nachfragen ein Standardschreiben, so wie es schon seit 2022 immer der Fall war. In diesem Text wurde sogar auf ein Schreiben von 2022 Bezug genommen. Von einer Prüfung oder Lösungen war keine Rede mehr, auch nicht von meiner Schwerstbehinderung. Es hat sich nichts geändert, es wurde nichts geprüft und nach einer Lösung wurde auch nicht gesucht. Es ist alles beim Alten geblieben. Die Gründe waren immer unterschiedlich. Dieses Mal lag es wieder daran, dass mein Lehramtsstudium keine Mathematik enthielt. Dass in einigen Bundesländern Mathematik für Grundschullehrkräfte gar nicht verpflichtend ist, versteht die Senatsverwaltung nicht.

Und auch, dass es im Lehrerberuf und mehr als Fachwissenschaften geht, scheint dort fremd zu sein. Bisher hat es niemanden interessiert und ich wurde auch nie danach gefragt, ob ich überhaupt mit Kindern umgehen kann, ob ich empathisch, kreativ und vorurteilsfrei bin usw. An sich sind diese Punkte egal, solange ich ein bestimmtes Lehramtsstudium vorweisen kann, welches wenig über meine Lehrerkompetenz aussagt. Zeigen, dass ich unterrichten kann, durfte ich bisher nie. Erfahrungen hätte ich in zur Genüge gehabt. Auf solche Hinweise wird noch immer mit Ausreden reagiert. Von weiterer Kommunikation mit der Senatsverwaltung sah ich ab.

Große Resonanz

Die gesamte Situation hat eine große Resonanz mit sich gebracht. Explizit wurde die Absurdität kritisiert. Denn das Schulsystem leidet an einer schwerwiegenden Krankheit: dem Lehrkräftemangel. Aus der Not heraus griff man dabei auf Menschen ohne Lehrerfahrungen, Studium und Abitur zurück. Mir entgegnete man wiederum, dass ich nicht qualifiziert genug sei. Um es noch einmal zu verdeutlichen: Ich habe ein abgeschlossenes Lehramtsstudium. Nachdem ich auf meine Situation aufmerksam gemacht hatte, bekam ich auch einige Nachrichten von anderen jungen Menschen, die Ähnliches durchmachen müssen und mussten. 

Wie weitreichend diese Angelegenheit eigentlich war, wurde mir erst bewusst, als der österreichische Fernsehsender ORF mich zu einem Interview einlud. Mit der Moderatorin sprach ich über meine Situation und die allgemeinen Defizite im Bereich des Lehramtes. Selbst in Österreich war man sprachlos über dieses Paradoxon. 

Ein großer Vorteil in meiner Pressearbeit war jedoch, dass ich viele sehr nette Menschen kennengelernt habe, die sich in ähnlichen oder anderen ausweglosen Situationen befanden. Das zeigte mir, dass ich nicht alleine bin und dass unser Schulsystem auf allen Ebenen große, systematische Defizite aufweist. Es ist sehr ernüchternd, dass so viele junge, motivierte Menschen einfach aufgebraucht oder abgedrängt werden. Umso wichtiger ist es daher, sich für Reformen einzusetzen. 

Ein großes Problem, welches mir in der gesamten Zeit aufgefallen ist, war, dass die Mitarbeiter:innen der Bildungsministerien größtenteils wenig Wissen über das Lehramtsstudium hatten und, dass das Studium meist kaum eine Aussage dazu treffen kann, ob man eine gute Lehrkraft ist oder nicht. Stattdessen wird immer auf die Inhalte des Studiums verwiesen. Jeder Lehramtsstudierende, Referendar und jede junge Lehrkraft wird dies kennen. Denn ob man als Lehrkraft besteht, zeigt sich erst, wenn man unterrichtet. 

Ich wurde nie gefragt, ob ich überhaupt die richtigen Basiskompetenzen für diesen Beruf mitbringe. Also ob ich empathisch, kreativ, gerecht und vorurteilsfrei bin, oder ob ich Kinder überhaupt mag und mit ihnen umzugehen weiß. Das hat niemanden interessiert. Wichtiger war, dass ich ein hochwissenschaftliches, praxisfernes Mathematikstudium vorweisen kann, das mich zwar zu einem guten Wissenschaftler, aber nicht unbedingt zu einem guten Lehrer gemacht hätte. Wie ich schon in meinem ersten Artikel schrieb, weist das Lehramtsstudium, wenn es um die Vorbereitung auf den Beruf geht, große Defizite auf. 

Natürlich gab es auch kritische bis polemische Kommentare, vorrangig, wenn die Zeitungen Berichte über mich auf Facebook oder Twitter posteten. Oft enthielten diese Kommentare Beleidigungen oder Unwissen. Die positive Resonanz war jedoch bei Weitem größer und stärker! 

Neue Chancen

Wahrscheinlich werde ich in diesem Leben kein Lehrer mehr. So traurig mich das macht, umso mehr Motivation habe ich jedoch, mich bildungspolitisch einzusetzen. Mein „Aktivismus“ für Betroffene, die sich in meiner Situation befinden und die Redaktionstätigkeit bei Lehrer News ist dabei nur der Anfang. 

Durch diese Tätigkeit habe ich die Möglichkeit, Bildungsthemen, die mich beschäftigen, anzusprechen und gleichzeitig diejenigen zu Wort kommen zu lassen, die sonst nicht gehört werden. In unserem Schulsystem muss sich dringend etwas ändern. Ich glaube, das wird von den Bildungsministerien jedoch derzeit missverstanden, denn Einsparungen und Gutsherrenentscheide sind damit nicht gemeint. 

Mein Appell an jeden Bildungsakteur: Je mehr Menschen sich für unser Schulsystem einsetzen, desto mehr könnt ihr erreichen!

Mehr zur Person

Paul Messall
Mehr als 20 Millionen Bildungsakteure leben in Deutschland – das sind ein Viertel der Gesamtbevölkerung. Entweder sind sie als Rezipienten oder als Mitarbeitende Teil des Schulsystems. Umso wichtiger ist die Aufgabe der Bildungspolitik, diesen Bereich vernünftig zu gestalten und weiterzuentwickeln. Aber Überraschung! Nicht immer wird sie dieser Aufgabe gerecht. Wie viele andere Mitwirkende am Schulsystem musste ich häufig Erfahrungen mit fragwürdigen Entscheidungen, Gesetzen und Positionen der Bildungspolitik machen. Oft kommen die zu kurz, die das System Schule und Bildung überhaupt als Ganzes bilden. Auf meiner Expedition von Schule und Abi, über das Lehramtsstudium bis hin zum Bildungsaktivisten, habe ich das Schulsystem in Deutschland von einer anderen, komplexen Seite kennengelernt. Gerade diese Erfahrungen motivieren mich, zum Berichten von Themen, über die meist geschwiegen wird. Ein Dozent sagte damals zu mir: „Sie können sowieso nichts ändern.“ – Das wollen wir doch mal sehen.
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