Von Illusionen lernen: Virtual Reality und seine Auswirkungen auf das Gehirn

Ein Junge mit einer Virtual Reality Brille

Virtuelle Lernwelten sind in der Lage, Lernende mit einer gänzlich neuen Perspektive auszustatten: Historische Ereignisse können als Quasi-Zeitzeuge nachempfunden, Blutkörperchen als Vehikel für eine Reise durch den menschlichen Körper genutzt und Sprachen anhand simulierter Alltagssituationen auf spielerische Weise erlernt werden. 

Damit erweitert Virtual Reality den Instrumentenkasten der Schulbildung um die Komponente des Erlebens. Doch hat diese neue Art, wie wir Dinge vermittelt bekommen, auch ihren Preis – etwa im Sinne psychologischer und emotionaler Effekte? Ein Blick auf die Studienlage und das Spektrum an Expertenmeinungen verrät eine Tendenz.

Virtuelle Welten als Nährboden für Empathie und Motivation

Es ist durchaus beeindruckend, mit welcher Leichtigkeit Virtual Reality Portale in fremde, ferne oder fiktive Welten öffnet. Doch beim Springen zwischen den Welten prasseln nicht nur viele, sondern auch intensive Eindrücke auf unsere Sinne ein. Eindrücke, die unser Gehirn als Erlebnis registriert und entsprechend abspeichert.

Ein Effekt, den insbesondere Jeremy Bailenson im Rahmen seiner Forschungen an der Stanford University akribisch untersucht. So untermauerten bereits seine frühesten Forschungen in dem Themenfeld, dass VR-basierte Lernmodule die intrinsische Motivation der Lernenden signifikant steigern können. Die Proband:innen, die VR im Unterricht nutzten, zeigten ein signifikant höheres Engagement und eine aktivere Teilnahme im Vergleich zu den Nutzer:innen konventioneller, arrivierter Lernmethoden.

Diese immersive Technologie bietet nicht nur eine erhöhte Motivation, sondern auch ein tieferes Verständnis komplexer Konzepte. So belegt eine Studie von David Markowitz, ebenfalls Stanford University (2018), dass nach dem Einsatz von VR im Biologieunterricht ein besseres Verständnis und eine tiefere Wissensverankerung bei den Proband:innen nachgewiesen werden konnte. 

Diese Lernmethode eröffnet gänzlich neue Möglichkeiten – entlang des Fächerkanons. So können nicht nur biologische Prozesse hautnah erlebt werden, sondern nahezu alle Fächer, insbesondere im MINT-Bereich. Die Interaktion in virtuellen Welten verankert das Gesehene dabei abrufbar im Gedächtnis.

Ein weiteres bemerkenswertes Ergebnis der Studien, vorwiegend von Bailenson, ist die Förderung von Empathie und sozialer Intelligenz durch den Einsatz von VR. In Programmen zum Training von Empathie konnten die sozialen Kompetenzen und das Mitgefühl der Teilnehmer erheblich verbessert werden. Hintergrund hierfür ist das Urprinzip der virtuellen Lernwelten – die Simulation von Prozessen, Situationen, Orten. In diesem Falle hilft der Einsatz von VR dabei, eine Immersion in die Perspektive anderer Menschen herbeizuführen, und diese mitsamt ihren Lebensumständen besser nachempfinden zu können. 

Fluch oder Segen: Bringt VR auch Nachteile mit sich?

Wenngleich VR über ein hohes Potenzial verfügt, Bildung inklusiver, integrativer und schlichtweg fairer zu gestalten, indem individuellen Schwächen und Stärken sowie Einschränkungen Raum gegeben wird, wird im Zusammenhang von Virtual Reality in der Bildung immer wieder ein Argument laut: die sogenannte Simulator-Krankheit. Betroffene klagen über Übelkeit, Schwindel und Kopfschmerzen. 

Diese treten bei einigen Personen aufgrund der Diskrepanz zwischen den visuellen Eindrücken und den körperlichen Empfindungen auf. Rebenitsch und Owen fanden in ihrer Studie aus dem Jahr 2016 heraus, dass etwa 20bis 30 Prozent der Nutzer:innen von VR-Systemen zumindest gelegentlich Symptome der Simulator-Krankheit erleben. Dabei sei es wichtig, Maßnahmen zu ergreifen, um diese Symptome zu minimieren – etwa regelmäßige Pausen und die Anpassung der VR-Umgebung.

Nun stammt diese Studie aus dem Jahr 2016 – seither hat sich viel getan. Kaum ein Medium entwickelt sich so schnell, wie Virtual-Reality-Headsets. So ist insbesondere das Tracking, also das Erfassen der eigenen Kopf- und Körperbewegungen, in den vergangenen Jahren drastisch optimiert worden. Das Ergebnis: Meine realen Bewegungen werden in Echtzeit in Bewegungen im virtuellen Raum überführt. 

Mein Spaziergang durch das alte Rom findet also nicht mehr sitzend statt, sondern wird durch ganz reale Schritte vorangetrieben. Im Falle von Platzmangel kann auch eine Teleport-Funktion gewählt werden. Wozu führt das? Letztlich verschwindet hierdurch die Schere zwischen dem Gesehenen und den Bewegungen meines Körpers. Die Ursache für Schwindel, Kopfschmerz und Übelkeit ist hiermit ausgemerzt, und Virtual Reality weitaus massentauglicher.

Während die oben genannten Auswirkungen derweil sehr gut analysiert werden konnten, ist die Studienlage zu Langzeitfolgen noch sehr überschaubar. Auswirkungen der regelmäßigen Nutzung von VR auf die psychische Gesundheit sind noch nicht umfassend erforscht. Die Vermutung: Eine übermäßige Nutzung, insbesondere vor dem Hintergrund immer realer aussehender VR-Lernwelten, könnte die Realitätseinschätzung beeinträchtigen. 

Es ist daher wichtig, die Nutzung von VR im Bildungsbereich ausgewogen zu gestalten und sicherzustellen, dass Schüler:innen auch weiterhin reale soziale Interaktionen und physische Aktivitäten pflegen.

VR revolutioniert nicht – VR ergänzt

VR sollte daher als ergänzendes Tool und nicht als Ersatz für traditionelle Lehrmethoden verstanden werden. Einzig die Kombination aus traditionellen Unterrichtsmethoden und VR kann den gewünschten Mehrwert bieten und Lernende dabei unterstützen, den maximalen Lernerfolg zu erzielen. Dies untermauert auch die sehr gute Untersuchungslage (vgl. Cheng, Makransky & Lilleholt) zur Aufmerksamkeitsspanne von Lernenden beim Einsatz von VR. 

So ist aufgrund minimierter Ablenkungen während der VR-Nutzung nachweislich eine größere Aufmerksamkeitsspanne gegeben – und zwar nicht nur im Moment der Immersion, sondern nachhaltig und themenbezogen. Die Untersuchung von Cheng et al. aus dem Jahr 2017 zeigte, dass VR-Lernmodule die Aufmerksamkeitsspanne der Schüler verlängern und ihre kognitiven Fähigkeiten verbessern können. Die interaktiven und visuellen Aspekte von VR fördern die aktive Beteiligung und das kritische Denken der Schüler. Damit bleibt am Ende ein tendenziell positives Fazit mit Blick auf die Nutzung von VR im Schulunterricht.

So bietet die Nutzung von Virtual Reality im Schulunterricht zahlreiche psychologische und emotionale Vorteile. Sie steigert die Motivation und das Engagement der Schüler, fördert ein tieferes Verständnis und verbessert soziale Fähigkeiten wie Empathie. Trotz einiger Herausforderungen wie der Simulator-Krankheit und potenziellen Langzeiteffekten auf die psychische Gesundheit überwiegen die positiven Effekte deutlich. Eine ausgewogene und durchdachte Integration von VR in den Unterricht kann die Lernumgebung bereichern und den Lernerfolg der Schüler nachhaltig verbessern. Die kontinuierliche Forschung und Anpassung der pädagogischen Praxis wird dabei helfen, das volle Potenzial von VR im Bildungsbereich auszuschöpfen.

Mehr zur Person

Jan-Philipp Moritz
Jan-Philipp Moritz ist ein Visionär im Bereich der digitalen Bildung. Als Gründer und CEO der VIL GmbH entwickelt er immersive Lernwelten für Schulen und Unternehmen. Er hat erfolgreich das Bildungsengagement von tonies®️ im Bereich der frühkindlichen Bildung betreut. Seine Motivation liegt in der Verbesserung der Bildung durch innovative Lösungen und effektive Markenkommunikation.
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