Das Wissen der Menschheit, so heißt es, verdoppelt sich alle fünf bis zehn Jahre. Das wirft die Frage auf, ob herkömmliche Methoden der Wissensvermittlung hier Schritt halten und ihren Bildungsauftrag langfristig erfüllen können, oder ob es eines Instruments bedarf, das den Lernprozess effizienter gestaltet. Sowohl hinsichtlich des Lerntempos als auch mit Blick auf die Nachhaltigkeit des Lernens.
In NRW wird diese Frage nun laut bejaht – das Ministerium für Schule und Bildung setzt großflächig auf Virtual Reality (VR) als Tool zur Visualisierung von Lerninhalten. Die Idee: Komplexe Lerninhalte greifbar machen und durch den “Erlebnis-Effekt” virtueller Lernumgebungen auch tiefer im Gedächtnis verankern.
So können naturwissenschaftliche Prozesse, historische Ereignisse, entfernte Orte oder ein Leben ohne sprachliche und kulturelle Barrieren in kurzen VR-Sequenzen erlebt und im Anschluss im Klassenverbund diskutiert werden. Das beschleunigt den Lernprozess immens und sorgt nachweislich für eine bessere Abrufbarkeit der Inhalte.
Doch ist der Einsatz der Technologie, deren Komfortzone im Unterhaltungssektor liegt, wirklich schon Alltag in deutschen Schulen?
Was einst nach Zukunftsmusik klang, stimmt heute den Dreiklang aus interaktiver Lernsequenz, Diskussion im Klassenverbund sowie pädagogisch-didaktischer Einbettung an. Virtual Reality wird bereits in zahlreichen Schulen der BRD eingesetzt. Das Leuchtturmprojekt in NRW sowie kleinere Projekte, etwa aus dem bayerischen Raum, verfolgen das Ziel, VR zunächst in den Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung sowie in den Medienzentren anzubieten, um so den Weg in den Unterrichtsalltag zu ebnen. Ein Erfolgsmodell, wie sich herausstellt. Denn viele zehntausende SuS durften im Jahr 2024 bereits regelmäßig durch virtuelle Lernwelten wandeln.
Das alte Rom erkunden, den Bau der Pyramiden Ägyptens bezeugen oder sich mit den Schrecken der NS-Zeit auseinandersetzen – als Instrument für Visualisierung bietet Virtual Reality viele Anknüpfungspunkte im Geschichtsunterricht. Diese gilt es didaktisch in den Lehrplan einzubetten. So können virtuelle Lernwelten eine hervorragende Ergänzung darstellen. Im Grunde kann jede Epoche, jedes Bauwerk oder Szenario seinen eigenen digitalen Zwilling bekommen und in der virtuellen Realität ergänzend erlebt werden.
Insbesondere im Chemie- oder Physikunterricht spielt diese Technologie eine immer größere Rolle. In einer virtuellen Laborumgebung können Schülerinnen und Schüler etwa Experimente beliebig oft reproduzieren – ganz ohne echte Gefahren oder Einsatz gefährlicher Stoffe. Oder wie wär’s mit einem Flug durch den menschlichen Körper, als Blutkörperchen? Die Möglichkeiten virtueller Lernwelten bestehen auch darin, über individuelle Stärken und Schwächen sowie die Ausprägung von Abstraktionsvermögen hinwegzusehen, und das Lernen inklusiv und integrativ zu gestalten. Insbesondere im MINT-Sektor kann dies einen erheblichen Mehrwert darstellen, ohne mit echten Chemikalien hantieren zu müssen.
Sprachen lernen, kulturelle Unterschiede identifizieren und Perspektivwechsel vornehmen: Auch Ansprüche der Inklusion und Integration können durch den Einsatz von VR mitgetragen werden. So können KI-gestützte Gespräche in beliebig vielen Szenarien das Erlernen von Sprachen verbessern und nahezu unbemerkt kulturelle Begebenheiten anderer Länder mittransportieren. Eine Ebene tiefer sprechen wir über Empathie und Toleranz. So schön kulturelle Unterschiede sind, so viel Nährboden bieten sie oftmals auch für gewaltvolle Auseinandersetzungen.
Das Projekt AugenBLICK mal! Beschäftigt sich in drei VR-Szenen genau damit: Toleranz und Empathie durch Perspektivwechsel schaffen. Dabei werden besagte Szenen in virtuellen Lernwelten dargereicht, um auch hier vom “Erlebnis-Effekt” zu profitieren. Denn: Was wir durch das VR-Headset sehen, nimmt unser Gehirn technisch gesehen als Erlebnis wahr. Dieser Effekt ist verantwortlich für nachhaltigeres Verankern der Szenerie und damit einhergehend auch mit dem Wissen sowie erhöhter Empathie und Toleranz.
Virtuelle Kurzpraktika, die den SuS binnen weniger Minuten Unternehmen und Berufsalltage verschiedenster Branchen vorstellen, sind ein beliebtes Anwendungsfeld von VR. Auch hier ist Effizienzsteigerung das Stichwort – denn: Bis zu 100 Berufe ließen sich binnen eines Schultages somit per Schnuppertag erkunden. Anwendungen wie BerufVR ermöglichen dies anhand von ganz realen Identifikationsfiguren, die die SuS virtuell durch ihren Betrieb führen und ganz nahbar von ihrem Berufsalltag berichten. Dies bietet eine wertvolle Entscheidungshilfe und bringt die Arbeitswelt für einen Moment direkt ins Klassenzimmer.
Die Vorteile eines mächtigen Visualisierungstools springen einen nahezu an. Doch wird jetzt auf Knopfdruck alles besser? Eine nüchterne Einordnung hilft – und entschärft ein wenig das Bild des Allheilmittels. So gibt es trotz der zahlreichen Vorteile auch Herausforderungen, die Schulen beim Einsatz von VR bewältigen müssen.
Ein wesentlicher Punkt sind die Kosten, da hochwertige VR-Headsets und die dazugehörige Software teuer sind. Viele Schulen sind auf Fördermittel angewiesen, um diese Technologie zu implementieren. Das Großprojekt NRW widmet sich diesem Problem, in dem es kostengünstige Plug&Play-Lösungen, etwa die von Virtuelles Interaktives Lernen, für viele SuS zugänglich macht. Zur Einordnung gehört aber auch, dass das Leuchtturmprojekt NRW bis dato das einzige seiner Art in der BRD ist, und etwaige Nachahmer auf sich warten lassen.
Technische Hürden spielen ebenfalls eine Rolle – wenngleich der Einsatz oben genannter Lösungen auf intuitive Benutzung getrimmt und ohne Vorerfahrung oder Affinität möglich ist, werden neue Technologien oft kritisch beäugt und nicht in dem Maße angenommen, wie man es sich erhoffen würde. Gesundheitliche Aspekte dürfen nicht außer Acht gelassen werden, denn längere VR-Sitzungen können zu Übelkeit oder Augenbelastung führen. Daher wird empfohlen, die Nutzung auf kurze Zeitfenster von maximal 20 Minuten zu begrenzen. Didaktische Integration ist entscheidend, denn VR darf nicht als reines Gimmick genutzt werden. Es bedarf einer sinnvollen Einbettung in den Lehrplan, damit es nachhaltige Lerneffekte erzielt.
Virtual Reality im Schulunterricht ist bis dato ein eher lokales Phänomen. Das Bestreben ist vielerorts da, durch zu knappe Mittel jedoch auf wenige Headsets limitiert. Das Großprojekt NRW hat, anders als vielleicht erwartet, bis dato keinen Domino-Effekt ausgelöst. Doch die Perspektiven für einen großflächigen Einsatz von VR im Unterricht sind vielversprechend. Über kurz oder lang kann das Instrument nicht mehr an seinen Fähigkeiten scheitern, sondern allenfalls am politischen Rahmen. Das zeigt ein Blick in Länder, die gemeinhin als Bildungsvorreiter gesehen werden – etwa Südkorea. Dort ist der Einsatz von VR neben zahlreichen anderen Technologien bereits Schulalltag.
Besonders die Entwicklungen im Bereich Künstliche Intelligenz könnten dazu beitragen, VR-Erfahrungen noch interaktiver und personalisierter zu gestalten, und individuelle Defizite schneller zu neutralisieren.
Auch Mixed Reality, im Grunde die Zusammenfassung von Virtual Reality und ihrer Schwestertechnologie Augmented Reality, könnte an Relevanz gewinnen. Denn am Ende gibt es nicht den einen heiligen Grahl – es wird immer um einen Technologiemix und vor allem um die sinnvolle Einbettung von Technologie durch Lehrkräfte gehen.