Barrieren abbauen, aber wie? So kann Integration auf dem Arbeitsmarkt gelingen

Von
Tobias Ristok
|
18
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May 2023
|
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Quelle: Canva

Menschen mit Behinderungen stehen vor zahlreichen Herausforderungen, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt. Auch bei guter Ausbildung sind sie im Vergleich zu anderen Arbeitssuchenden überproportional häufig von Arbeitslosigkeit betroffen. Um eine inklusive Gesellschaft zu schaffen, in der alle Menschen gleichwertig arbeiten können, bedarf es grundlegender Veränderungen. Diese  kann nur dann verwirklicht werden, wenn auch Menschen mit Behinderungen die gleichen Chancen erhalten, sich am Arbeitsleben zu beteiligen. Im heutigen Artikel unserer Themenwoche rücken wir die Probleme der Inklusion in Deutschland in den Fokus und erläutern, wie diese auch nach der Schule gelingen kann. Inklusion auf dem Arbeitsmarkt bedeutet nicht nur eine positive Entwicklung für Einzelpersonen, sondern eröffnet auch Unternehmen die Chance, von einer vielfältigen Belegschaft zu profitieren. Wie das funktionieren kann, erfahrt ihr später. Als erstes werfen wir nachfolgend  einen Blick auf den Status quo.

Theorie und Praxis der Behindertenrechtskonvention 

Im März 2009 verabschiedete der Deutsche Bundestag die UN-Behindertenrechtskonvention und ebnete damit den Weg für die Umsetzung der Inklusion auf allen staatlichen Ebenen. Die Konvention stellt eine verbindliche Grundlage für politische Entscheidungsträger auf allen Ebenen dar. Bei allen Entscheidungsprozessen ist es zudem zwingend erforderlich, Menschen mit Behinderungen einzubeziehen und anzuhören („nichts über uns ohne uns“). Sie haben das Recht auf aktive und selbstbestimmte Teilhabe in der Gesellschaft („participation“). Der Staat ist wiederum verpflichtet, zeitnah und ohne Ausnahme die bestehenden Sondersysteme in den Bereichen Schule, Ausbildung, Arbeit, Wohnen, Freizeit usw. in ein inklusives System umzuwandeln, in dem niemand mehr ausgegrenzt oder aufgrund seiner Behinderung benachteiligt wird. Gleichzeitig haben alle Betroffenen das Recht auf angemessene Vorkehrungen, um Teilhabe zu ermöglichen. Die Konvention hat zu einer grundlegenden Neuauffassung des Begriffs Behinderung geführt. Behinderung wird nicht nur aus medizinischer Sicht als individuelle körperliche oder seelische Beeinträchtigung betrachtet, sondern auch als gesellschaftliches Phänomen. Das bedeutet, dass ein Mensch nicht nur behindert ist, sondern auch durch sein soziales Umfeld behindert wird. Und dieser soziale Aspekt kann verändert werden!

Durch die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention soll die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit so gestaltet werden, dass sie für alle Menschen offen und inklusiv ist. Das erfordert Veränderung beim Denkens und der Strukturen in allen Bereichen des Lebens. Eine inklusive Gesellschaft erkennt die Vielfalt der Menschen an, schafft Barrieren ab und ermöglicht es jedem Einzelnen, seine Fähigkeiten und Potenziale zu entfalten. Es ist ein Weg, der eine gemeinsame Anstrengung von Regierungen, Institutionen, Arbeitgebern und der gesamten Gesellschaft erfordert, um ein gerechtes Miteinander zu erreichen.

Inklusion am Arbeitsplatz – Chancen und Grenzen

Die Förderung der Inklusion darf nicht mit Schulabschlüssen enden, sondern muss auch auf dem Arbeitsmarkt vorangetrieben werden. Die Politik betont häufig die Bedeutung von Inklusion auf allen Ebenen, einschließlich des Arbeitsplatzes. Das Ziel einer inklusiven Arbeitsgesellschaft besteht darin, allen Arbeitnehmern die volle gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen, indem sie wirtschaftliche Sicherheit erlangen und sich durch Qualifizierung und berufliche Tätigkeit persönlich weiterentwickeln können.

In der Realität arbeiten Menschen mit Beeinträchtigungen oft in Behindertenwerkstätten für einen Hungerlohn oder absolvieren Praktika, da es einfacher ist, solche Optionen anzubieten, anstatt individuell angepasste Arbeitsplätze zu schaffen, die ihren Fähigkeiten und Interessen entsprechen  – ein informatives Youtube Video aus der Sicht eines Betroffenen zum Thema Arbeitsgerechtigkeit für Menschen mit Behinderung findet ihr hier. Etwa ein Drittel der Arbeitgeber in Deutschland zahlt lieber eine Ausgleichsabgabe, anstatt die gesetzlich vorgeschriebene 5-Prozent-Quote für die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen einzuhalten. Ein weiteres Drittel der Unternehmen beschäftigt überhaupt keine Menschen mit Behinderung. Eine verstärkte individuelle Förderung würde bedeuten, Menschen mit Behinderungen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, was ihnen gleichzeitig eine höhere Wertschätzung als Menschen in der Gesellschaft zukommen lassen würde. Die Ausübung eines anerkannten Berufs spielt hierbei eine wichtige Rolle.

Um Menschen mit Behinderungen eine Alternative zur Arbeit in Werkstätten zu bieten, wurde das Projekt "Kompass" vom Kompetenzzentrum für passgenaue Assistenzangebote beruflicher Teilhabe ins Leben gerufen. Dieses Projekt wird von der Lebenshilfe Südschwarzwald in Zusammenarbeit mit zwei weiteren Institutionen durchgeführt. Es begleitet und unterstützt Menschen mit Beeinträchtigungen, die eine Beschäftigung im regulären Arbeitsmarkt anstreben. Dabei werden die Interessen und Qualifikationen der Bewerberinnen und Bewerber berücksichtigt, und es werden geeignete Stellen in der freien Wirtschaft gesucht. Wenn sich Arbeitgeber bereit erklären, die Bewerber einzustellen, erhalten diese eine spezielle Schulung und werden am Arbeitsplatz von einem „Joblotsen” begleitet. Im Idealfall vermittelt das Projekt die Bewerberinnen und Bewerber in dauerhafte Arbeitsverhältnisse. Auch nach der Einstellung wird weiterhin Unterstützung und Betreuung angeboten.

Quelle: Commons

In einem Gespräch mit Raul Krauthausen, einem renommierten Aktivisten für Inklusion und Gründer von JOBinklusive, brachte er die verschiedenen Herausforderungen zur Sprache, mit denen Arbeitgeber bei der Integration von Menschen mit Behinderungen konfrontiert sind. Er betonte: "Es gibt viele Berührungsängste bei den Arbeitgebern. Oft wissen sie nicht, wie sie mit Menschen mit Behinderungen umgehen sollen. Es fehlt an Informationen, und das führt zu Vorurteilen und falschen Annahmen”, so Krauthausen Diese Vorurteile, wie zum Beispiel die Annahme, dass Menschen mit Behinderungen häufiger krank seien oder weniger leistungsfähig, erschwerten den Unternehmen die Anerkennung der vielfältigen Fähigkeiten und Talente dieser Menschen.

Ein weiteres Problem, das Krauthausen ansprach, sind die starren Strukturen in vielen Unternehmen. Er erklärt: "Unternehmen stoßen oft auf Schwierigkeiten, wenn sie die erforderlichen Unterstützungen für Menschen mit Behinderungen bereitstellen möchten. Die Wege sind lang und kompliziert." Zudem fällt es Unternehmen schwer, ihre Arbeitsplätze und Tätigkeiten flexibel anzupassen. Krauthausen bemerkte kritisch: "Es gibt eine Stellenbeschreibung, und wenn jemand mit Behinderung darauf passt, ist es gut. Doch häufig fehlt es an dem Willen und auch an der Vorstellung, Arbeitsplätze oder Tätigkeiten neu zu strukturieren oder anzupassen."

Außerdem wies Krauthausen darauf hin, dass der Wille zur Inklusion und Vielfalt oft auf Führungsebene vorhanden sei, jedoch die Umsetzung an den Mitarbeitenden scheitere: "Wir beobachten bei JOBinklusive, dass die Führungsetage zwar Inklusion und Diversity umsetzen möchte, doch scheitert es dann daran, dass die Mitarbeitenden bei dieser Entscheidung nicht mitgenommen werden oder nicht wissen, wie es gemeinsam geht."

Isabelle Joswig, Inklusionsbeauftragte bei Google Deutschland, betont in einem Gespräch mit der Braunschweiger Zeitung: "Es ergeben sich erhebliche Chancen für die Wirtschaft. Unternehmen können von der Vielfalt der Perspektiven, Erfahrungen und Fähigkeiten profitieren, die Menschen mit Behinderungen mitbringen. Durch eine inklusive Personalpolitik können wir eine breitere Talentbasis erschließen und den Bedarf an qualifizierten Fachkräften decken."

Joswig betont, dass Unternehmen verstärkt in barrierefreie Arbeitsumgebungen investieren und Maßnahmen ergreifen sollten, um Menschen mit Behinderungen den Zugang zu Beschäftigungsmöglichkeiten zu erleichtern. Dazu gehören beispielsweise barrierefreie Bewerbungsverfahren, flexible Arbeitsmodelle und angemessene Anpassungen am Arbeitsplatz. Die Förderung der Inklusion von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt wäre ein Gewinn für alle Beteiligten. Es gehe nicht nur um soziale Gerechtigkeit, sondern auch um die Stärkung der Wirtschaft durch die Nutzung des vollen Potenzials der Gesellschaft. Wenn wir eine inklusive Arbeitswelt schaffen würden, könnten wir eine positive Veränderung bewirken und eine Gesellschaft aufbauen, in der jeder Mensch gleiche Chancen hätte, sein volles Potenzial zu entfalten.

Der Werdegang eines Kochs in einem Mainzer Hotel zeigt, wie gelungene Arbeitsmarktintegration aussehen kann: . Julian Stockhausen beginnt seinen Arbeitstag um 8 Uhr morgens in der Küche. Mit Leichtigkeit erledigt der 24-jährige Julian seine Aufgaben, die für andere möglicherweise eine Herausforderung darstellen würden. Dabei spricht voller Begeisterung über seine Arbeit und betont, dass er alles daran liebt – insbesondere die Möglichkeit, sein eigenes Geld zu verdienen. Trotz seines Down-Syndroms ist Julian nahtlos in das Unternehmen integriert. Nach einem Praktikum im Hotel im Jahr 2018 absolvierte er eine berufliche Bildungsmaßnahme in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Julian hat es geschafft, sich seinen Platz in der Hotelbranche zu erobern und sich erfolgreich zu integrieren.

Mehr Chancengleichheit durch Digitalisierung? 

Auch die Digitalisierung eröffnet neue Möglichkeiten und Chancen für Menschen mit Behinderungen. Im Arbeitsumfeld sind digitale Technologien und Hilfsmittel heute wichtiger denn je. Im Rahmen des Inklusionsbarometers 2022 wurde eine Zusatzbefragung zur Digitalisierung durchgeführt, deren Ergebnisse zeigen, dass theoretisch das große Potenzial an Arbeitskräften von Menschen mit Behinderungen besser mobilisiert werden könnte als je zuvor.

Durch assistierende Technologien, digitale Barrierefreiheit und flexible Arbeitsmodelle wie Home-Office oder mobiles Arbeiten können die Rahmenbedingungen für Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt verbessert werden. Diese Entwicklungen tragen dazu bei, ihre Teilhabe am Arbeitsleben zu steigern. Es ist jedoch wichtig, arbeitslose Menschen mit Behinderungen zu qualifizieren und weiterzubilden, um sicherzustellen, dass sie nicht von den raschen Entwicklungen der Gesellschaft abgeschnitten werden, insbesondere während längerer Phasen der Erwerbslosigkeit.

Realitätscheck in Deutschland

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Mehr als eine Dekade nach der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention steckt die Inklusion in Deutschland immer noch in den Anfängen fest. Sowohl in der schulischen als auch in der beruflichen Bildung und der Integration von Menschen mit Behinderungen auf dem ersten Arbeitsmarkt gibt es noch viel zu tun. Es besteht ein dringender Bedarf an einer Überarbeitung des bestehenden Systems, um den individuellen Fähigkeiten und Potenzialen dieser Menschen gerecht zu werden. Statt sie auf dauerhafte Beschäftigung in Werkstätten zu beschränken, sollten Maßnahmen ergriffen werden, um ihre Integration in den regulären Arbeitsmarkt zu fördern –  womit auch ein Schritt zur Bekämpfung des Fachkräftemangel getan wäre Dies könnte beispielsweise durch gezielte Unterstützung, spezialisierte Ausbildungsprogramme und angemessene Anpassungen am Arbeitsplatz erfolgen, darin scheinen sich die Expert:innen einig. Um die Inklusion am Arbeitsplatz zu fördern, können sich Arbeitgeber anhand dieses Leitfadens orientieren, der wertvolle Empfehlungen und praxisorientierte Tipps bietet. 

Der nächste Artikel unserer Themenwoche Inklusion beschäftigt sich mit dem Thema "Inklusion und Digitalisierung”, in dem wir erfolgreiche Projekte vorstellen, die den Weg in eine inklusive Gesellschaft ebnen – und die auch bei der Integration in den Arbeitsmarkt helfen können. 

Welche Maßnahmen fallen euch ein, um Inklusion für den Arbeitsmarkt attraktiver zu machen? Welche Chancen oder vielleicht auch Risiken seht ihr für die Zukunft? Schreibt uns eure Meinung in die Kommentare!

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