Der stille Rückzug: Schulverweigerung als unterschätztes Problem

Von
Jonasz Schulze
|
9
.
October 2024
|
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Verzweifelter Schüler mit Rucksack sitzt am Straßenrand – Symbol für Schulabsentismus, Schulschwänzen und psychische Belastungen bei Kindern

Schulabsentismus ist oft ein Ausdruck von Überforderung, Angst und familiären Belastungen, die frühzeitig erkannt werden müssen, um langfristige Folgen zu verhindern. (Quelle: Canva).

“Schwänzen ist keine Diagnose, sondern ein Symptom” – mit dieser Aussage bringt der Leipziger Bildungsforscher Prof. Dr. Heinrich Ricking auf den Punkt, was in Teilen der Gesellschaft nicht wahrgenommen wird: Schulabsentismus ist mehr als das klassische Schwänzen. Hinter der unentschuldigten Abwesenheit von Schüler:innen stecken oft persönliche und soziale Probleme. Doch was führt dazu, dass Jugendliche den Unterricht meiden? Und welche Maßnahmen können helfen, diese Entwicklung frühzeitig zu stoppen? 

Was bedeutet Schulabsentismus? 

Schulabsentismus ist ein Begriff, der vielen Lehrkräften bekannt ist, aber selten in den Vordergrund rückt. Doch was verbirgt sich dahinter? Schulabsentismus beschreibt die unerlaubte und unentschuldigte Abwesenheit von Schüler:innen vom Unterricht. Dieses Phänomen betrifft alle Schularten und Schulstufen. Die Ursachen für das Fernbleiben sind jedoch so vielfältig wie die betroffenen Jugendlichen selbst. 

Nach Ansicht des Absentismus-Forschers Prof. Dr. Heinrich Ricking von der Universität Leipzig handelt es sich dabei um ein komplexes, multikausales Problem, das häufig unterschätzt wird. In den Medien sei oft nur von “Schulschwänzern” die Rede, doch diese Vereinfachung greife zu kurz. “Wir müssen differenzieren”, betont Ricking. Nicht jeder Schüler und jede Schülerin, die regelmäßig fehlen, tut dies aus Desinteresse. Die Ursachen reichen von Prüfungsangst über soziale Isolation bis hin zu familiären Problemen. 

Unsichtbare Gründe: Zwischen Angst, Druck und familiären Lasten 

Schulabsentismus lässt sich selten auf eine einzige Ursache reduzieren. Häufig resultiert er aus einem Zusammenspiel sozialer, emotionaler und familiärer Herausforderungen, die tiefer im System verwurzelt sind. Einige Schüler:innen meiden den Unterricht, weil sie Prüfungsangst haben oder sich im schulischen Umfeld nicht sicher fühlen. Andere erleben einen permanenten Leistungsdruck und fühlen sich den Anforderungen nicht gewachsen. Diese Überforderung ist oft kein individuelles Problem, sondern spiegelt eine fehlende Unterstützung in einem Bildungssystem wider, das nicht immer die Bedürfnisse aller Schüler:innen berücksichtigt. 

Auch familiäre Probleme tragen wesentlich zu diesem Phänomen bei. Studien zeigen, dass etwa 10 Prozent der Schüler:innen, die regelmäßig fehlen, von ihren Eltern zu Hause gehalten werden – sei es, weil sie im Haushalt mithelfen müssen oder weil die Eltern ein kritisches Verhältnis zum System haben. Vor allem in Haushalten, die mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, wird der Schulbesuch oft als zweitrangig betrachtet, da die Bewältigung des Alltags Vorrang hat. Eltern, die unter psychischen Belastungen leiden oder selbst negative Erfahrungen mit dem Bildungssystem gemacht haben, können ungewollt dazu beitragen, dass ihre Kinder nicht regelmäßig zur Schule gehen. Diese Zusammenhänge verdeutlichen, dass Schulverweigerung häufig Ausdruck tiefer liegender struktureller Probleme ist, die nicht allein durch individuelles Handeln gelöst werden können.

Langfristige Folgen: Wie Schulabsentismus Lebenswege verändert 

Für Lehrkräfte ist es entscheidend, die langfristigen Folgen von Schulverweigerung im Blick zu behalten. Wer über längere Zeit nicht zur Schule geht, verpasst nicht nur Lerninhalte, sondern auch soziale Erfahrungen und den Kontakt zu Gleichaltrigen. Schüler:innen, die regelmäßig fehlen, haben ein deutlich höheres Risiko, die Schule ohne Abschluss zu verlassen. Dies verschlechtert nicht nur ihre beruflichen Chancen, sondern verstärkt auch soziale Ungleichheiten. 

Prof. Dr. Petra Buchwald von der Bergischen Universität Wuppertal hebt hervor: „Es gibt viele Kollegen, die sich zu diesem Thema engagieren und angefangen haben, Ursache- und Wirkungsfaktoren zu analysieren.“ Ein wichtiger Faktor ist dabei der soziale Rückhalt, der den Schüler:innen das Gefühl vermittelt, dass sie in ihrer schulischen Umgebung unterstützt und wertgeschätzt werden. In ihren Studien betont Buchwald die Bedeutung von Ressourcen wie Selbstwirksamkeit, die den Schüler:innen hilft, Herausforderungen in der Schule besser zu bewältigen.

Die negativen Folgen von Schulabsentismus beschränken sich jedoch nicht auf das Leben des Einzelnen. Fehlende Schulabschlüsse haben auch Auswirkungen auf die Gesellschaft. Wer ohne Abschluss die Schule verlässt, hat schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, was wiederum das Risiko von Armut und sozialer Ausgrenzung erhöht. Für Lehrkräfte ist es daher wichtig, den Ernst der Lage frühzeitig zu erkennen und gezielte Maßnahmen zur Unterstützung anzubieten. 

Wie eine positive Schulkultur Fehlzeiten verhindern kann 

Lehrkräften kommt bei der Prävention von Schulabsentismus eine entscheidende Rolle zu. Frühzeitige Interventionen können den Verlauf von Fehlzeiten stark beeinflussen. Bereits in der Grundschule zeigen sich oft erste Anzeichen, die auf ein späteres Vermeidungsverhalten hindeuten können. Besonders Kinder, die Schwierigkeiten mit dem Unterrichtsstoff haben oder sich in der Klassengemeinschaft nicht wohlfühlen, benötigen gezielte Unterstützung. 

Eine individuelle Förderung dieser Kinder und Jugendlichen ist daher unerlässlich. In diesem Zusammenhang betont Prof. Ricking die Bedeutung einer positiven Schulkultur. Schulen, die eine unterstützende und wertschätzende Atmosphäre bieten, können das Risiko für Schulabsentismus deutlich senken. Als Lehrkraft sollte man darauf achten, eine Umgebung zu schaffen, in der sich alle Schüler:innen sicher fühlen und ihre individuellen Bedürfnisse ernst genommen werden. Ein sicherer Raum, auch Safe Space genannt, in der Schule kann helfen, Ängste zu mindern und das Zugehörigkeitsgefühl der Schüler:innen zu stärken. 

Ein Beispiel für erfolgreiche Prävention von Schulabsentismus ist das Hamburger Projekt “Jeder Schultag zählt”, das während der Corona-Pandemie an mehreren Schulen umgesetzt wurde. Hier wurden gezielt Maßnahmen erprobt, um Fehlzeiten zu reduzieren. Dazu gehörten regelmäßige Gespräche zwischen den Lehrkräften und den Schüler:innen, in denen persönliche Herausforderungen wie Ängste oder familiäre Probleme thematisiert wurden, ohne dass die Schüler:innen Sanktionen befürchten mussten. Zusätzlich wurden Lernförderprogramme eingerichtet, um versäumten Stoff nachzuholen und Sozialarbeiter:innen unterstützen individuell, insbesondere in Zusammenarbeit mit den Familien. Um die Stärkung der Schulgemeinschaft zu fördern, wurden Workshops zum sozialen Miteinander und Anti-Mobbing-Programme angeboten, um das Zugehörigkeitsgefühl der Schüler:innen zu stärken. Diese Ansätze zeigen, dass Prävention erfolgreich ist, wenn sie auf individuelle Unterstützung, soziale Einbindung und eine positive Schulkultur setzt (Lehrer News berichtete). 

Europäischer Vergleich: Wo steht Deutschland? 

Schulabsentismus ist kein rein deutsches Phänomen. In ganz Europa kämpfen Bildungssysteme mit ähnlichen Herausforderungen. Ein EU-Förderprogramm zeigt, dass die Abwesenheitsraten in Ländern wie Griechenland und der Türkei bei 20 bis 30 Prozent liegen – deutlich höher als in Deutschland, wo die Quote bei etwa 8 bis 10 Prozent liegt. Diese Unterschiede lassen sich teilweise durch die wirtschaftliche Lage der Länder erklären. In Regionen mit hoher Jugendarbeitslosigkeit, wie in Spanien oder der Türkei, fehlt oft der Anreiz, die Schule zu besuchen, da die beruflichen Perspektiven auch mit einem Abschluss begrenzt sind. 

Einige europäische Länder, wie Großbritannien, haben allerdings gezielte Mechanismen entwickelt, um Schulabsentismus besser zu überwachen. Dort erfassen Schulen Fehlzeiten digital und Eltern werden bei unentschuldigten Fehltagen automatisch benachrichtigt. Dieser strukturierte Umgang mit Fehlzeiten könnte auch in Deutschland hilfreich sein, um schneller auf Abwesenheiten zu reagieren und präventive Maßnahmen gezielt einzusetzen. 

Alarmzeichen erkennen: Was Lehrkräfte tun können 

Für Lehrkräfte ist es entscheidend, frühzeitig auf Schulabsentismus zu reagieren. Dabei sollten nicht nur die Fehlzeiten an sich, sondern auch die zugrunde liegenden Ursachen in den Blick genommen werden. Ricking empfiehlt regelmäßige Gespräche mit den Schüler:innen und Eltern zu führen, um mögliche Ängste oder familiäre Probleme frühzeitig zu erkennen. Hierbei sind Empathie und ein offener Dialog besonders wichtig, um den Schüler:innen das Gefühl zu vermitteln, dass ihre Sorgen ernst genommen werden. 

Darüber hinaus kann eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Schulen, Schulsozialarbeiter:innen und Jugendämtern helfen, um gefährdete Schüler:innen besser zu unterstützen. Ein koordiniertes Vorgehen und eine enge Vernetzung der beteiligten Akteure sind der Schlüssel, um langfristige Fehlzeiten zu verhindern und eine gezielte Unterstützung der betroffenen Schüler:innen zu gewährleisten. 

Schulabsentismus – ein unterschätztes Problem 

Schulabsentismus ist ein vielschichtiges Phänomen, das weit über das bloße “Schwänzen” hinausgeht. Die Ursachen reichen von Angststörungen über familiäre Probleme bis hin zu einer generellen Ablehnung des Schulsystems. Frühzeitige Intervention, individuelle Förderung und eine positive Schulkultur sind entscheidende Maßnahmen, um betroffene Schüler:innen zu unterstützen und langfristige Fehlzeiten zu vermeiden. Nur durch eine koordinierte Zusammenarbeit zwischen Schulen, Eltern, Schulsozialarbeiter:innen und Behörden kann das Phänomen des Schulabsentismus wirksam angegangen werden und den betroffenen Schüler:innen eine erfolgreiche Schullaufbahn ermöglichen.

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