Die soziale Herkunft entscheidet in Deutschland nach wie vor über Bildungschancen – ein Aspekt, der in der aktuellen Bildungsdebatte häufig übersehen wird. (Quelle: Canva)
In der aktuellen Bildungsdebatte wird häufig Migration als Herausforderung beleuchtet, ein ebenso bedeutsamer Aspekt bleibt jedoch oft außen vor: die soziale Herkunft. Dabei wäre es dringend notwendig, sich nicht nur auf den Migrationshintergrund von Schüler:innen zu fokussieren, sondern auch auf die sozialen und wirtschaftlichen Startbedingungen aller Kinder zu achten und diese im Bildungskontext zu berücksichtigen. Klassismus, also die Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft, ist ein Thema, das im Schulalltag leider eine große Rolle spielt. Obwohl die Vorstellung, dass soziale Schichten keine Bedeutung mehr haben, weit verbreitet ist, zeigt sich gerade im Bildungsbereich immer wieder das Gegenteil.
Um die Auswirkungen von Klassismus im Bildungssystem zu verstehen, ist es zunächst wichtig, einen Blick auf die Bedeutung und Herkunft des Begriffs zu werfen, um zu erkennen, welche unsichtbaren Hürden dadurch für viele Schüler:innen entstehen können.
“Klassismus” bezeichnet die Diskriminierung und Benachteiligung von Menschen aufgrund ihres tatsächlichen oder vermuteten sozialen Status. Diese Form der Ausgrenzung erschwert gesellschaftliche Teilhabe, hemmt die persönliche Entwicklung und beeinflusst berufliche Chancen. Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft zeigt sich in vielen Bereichen: in Schulen, im Kulturbereich, in der Politik, in Institutionen oder im alltäglichen Umgang.
Klassismus zählt zu einer der ältesten Formen von Diskriminierung. Bereits in den 1830er Jahren wurde von “classism” gesprochen und in den 1970er Jahren wurde der Begriff in den USA durch die Arbeit des lesbischen Arbeiterkollektivs “The Furies” – analog zur Sexismusdebatte – wiederbelebt. In Deutschland hingegen ist die Auseinandersetzung mit Klassismus erst in den letzten Jahren medial präsent geworden. Aus diesem Grund ist es wichtig, deutlich zu machen, welche Aspekte Klassismus umfassen kann, um zu vermeiden, dass die Debatte einseitig geführt wird.
Die Politikwissenschaftlerin Iris M. Young benennt in ihrem Werk “Five Faces of Oppression” zentrale Dimensionen von Unterdrückung: Ausbeutung, Machtlosigkeit, Marginalisierung, Gewalt und Kulturimperialismus. Kulturimperialismus bedeutet dabei, dass die Perspektiven und Erfahrungen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen systematisch unsichtbar gemacht und als “fremd” abgestempelt werden. Diese Facetten von Klassismus betreffen Menschen mit niedrigem Einkommen, Erwerbslose, Wohnungslose und Kinder aus Arbeiterfamilien und ziehen sich durch verschiedene Lebensbereiche, von Vermögensverteilung über Wohnsituation und Gesundheit bis zur Bildung.
In Deutschland beeinflusst die soziale Herkunft maßgeblich die Bildungschancen eines Kindes sowie seine kulturellen und materiellen Möglichkeiten. Der soziale Status entscheidet oft darüber, in welchem Stadtteil ein Kind aufwächst, welche Schule es besucht und welche kulturellen Inhalte es konsumiert. Diese Faktoren wirken sich auf die spätere Berufswahl und das Einkommen aus. Gleichzeitig halten sich hartnäckig Vorurteile gegenüber sozial benachteiligten Gruppen. Häufig wird Menschen in Armut eine Mitschuld an ihrer Lage unterstellt, obwohl viele von ihnen in unsicheren und schlecht bezahlten Jobs arbeiten, die kaum zum Leben reichen. Obwohl diese soziale Ungleichheit weitgehend bekannt ist, findet sie in der Antidiskriminierungsarbeit kaum Beachtung. Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft wird selten thematisiert, weshalb entsprechende Bildungsangebote fehlen.
Auch Studien belegen, dass Kinder aus Familien mit höherem sozialen Status deutliche Vorteile genießen: Eltern mit höherer Bildung und einem guten Einkommen schaffen oftmals ein Umfeld, in dem kulturelle und schulische Förderung zum Alltag ihrer Kinder gehört. Der OECD-Bericht 2024, der sich auf die Förderung von Chancengleichheit im Bildungssystem konzentriert, bestätigt, dass der familiäre Hintergrund weiterhin stark die Bildungsergebnisse beeinflusst und Bildungschancen oft über Generationen weitergegeben werden. Soziale Ungleichheiten beginnen bereits früh und ziehen sich durch alle Stufen des Bildungssystems.
In den Ländern mit verfügbaren Daten nehmen Kinder aus einkommensschwachen Familien seltener an frühkindlicher Bildung teil. Schüler:innen aus weniger privilegierten sozioökonomischen Verhältnissen schneiden außerdem in Leistungsstudien wie IGLU und PISA schlechter ab. Beim Übergang in die Sekundarstufe II haben Jugendliche, deren Eltern keinen Hochschulabschluss haben, eine um 19 Prozentpunkte geringere Wahrscheinlichkeit, diese erfolgreich abzuschließen, als ihre Mitschüler:innen, deren Eltern einen Hochschulabschluss haben. Während 72 Prozent der Erwachsenen, deren Eltern über einen Hochschulabschluss verfügen, selbst ein Hochschulstudium abgeschlossen haben, sind es bei Personen, deren Eltern keinen Hochschulabschluss haben, nur 19 Prozent. Dass Kinder aus privilegierten Verhältnissen dann häufiger das Gymnasium besuchen und in höherer Bildung erfolgreich sind, hängt also nicht nur von “Talent” oder “Intelligenz” ab, sondern ist häufig eine Folge ihres sozialen Hintergrunds und der damit verbundenen Möglichkeiten.
Theresa Wolf, Lehrerin an einer Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen, hat es sich zur Aufgabe gemacht, genau über dieses Thema Aufklärung zu leisten. Als @frau__wolf, spricht sie auf ihrem TikTok-Account über Themen wie Rassismus und Klassismus. Ihrer Meinung nach lernen Kinder in der Schule nicht alles, was sie später im Leben benötigen. Außerdem haben nicht alle die gleichen Chancen oder die Möglichkeit, sich Nachhilfeunterricht zu leisten: “Meine Mutter war alleinerziehend, das Geld war knapp. Mir hat man damals in der Schule gesagt, dass aus mir nichts werden könne, wenn man schaut, woher ich komme“, erzählt Wolf. Die abwertende Behandlung hat bei ihr Selbstzweifel ausgelöst, und sie konnte lange nicht daran glauben, dass sie das Abitur schaffen würde. “So ein Klassismus in der Schule verletzt unfassbar”, betont Wolf. Erst während ihres Masterstudiums kam bei ihr der Durchbruch – sie erkannte, dass sie doch viel Potenzial in sich trägt.
Wolf sieht nicht nur Klassismus, sondern auch Rassismus als Hindernis für Chancengleichheit im deutschen Bildungssystem. Sie verweist auf die Max- und Murat-Studie von 2018, die zeigt, dass Kinder allein aufgrund eines ausländisch klingenden Namens benachteiligt werden. “Auch Kinder, die kein gutes Deutsch sprechen, erleben in der Schule ständig Rassismus”, erklärt sie weiter – ebenso wie ihre Eltern. Für einen Elternabend übersetzte sie deshalb Teile einer Präsentation, um sicherzustellen, dass alle Eltern eingebunden werden. Ihre Aktion brachte ihr einige kritische Kommentare auf TikTok ein. Für sie ein Beweis dafür, dass Rassismus allgegenwärtig ist. Schon an ihren früheren Schulen wurde das Thema “deutsche Sprache” kontrovers diskutiert, was Wolf als klassischen Linguizismus bezeichnet. Also die Abwertung von Menschen aufgrund ihres Dialekts oder mangelnder Sprachkenntnisse.
Heute arbeitet Wolf an einer Schule, die sich als besonders offen und tolerant beschreibt und das Siegel “Schule ohne Rassismus” trägt. Dennoch hält sie die Bezeichnung für irreführend. Projekte zur Förderung rassismuskritischer Bildung seien zwar bedeutsam, aber der Name erwecke den falschen Eindruck, es gebe Schulen, in denen Rassismus gänzlich überwunden sei. “Es gibt in Deutschland keine Schule ohne Rassismus”, so Wolf. Genauso wenig, wie es Schulen ohne Klassismus gibt. Wolf hat es sich zur Aufgabe gemacht, es besser zu machen, als sie es selbst erlebt hat: “Als ich Lehrerin geworden bin, habe ich gemerkt, dass ich es besser machen will. Ich will für Schülerinnen und Schüler die eine Person sein, die an sie glaubt”, sagt Wolf.
Bildungspolitik und gesellschaftliche Diskussionen über Bildung werden oft von Menschen geführt, die selbst einen direkten, geradlinigen Bildungsweg durchlaufen haben – sei es in der Politik, im Journalismus oder in der Wissenschaft. Die Realität von Schüler:innen in benachteiligten Gruppen und deren Herausforderungen bleibt daher häufig unberücksichtigt. Dabei müssten gerade diese einflussreichen Akteur:innen erkennen, dass ihre Erfahrungen nicht für alle gelten.
Es gibt viele Stimmen, die für ein gemeinsames Schulsystem plädieren, das gleiche Chancen für alle Kinder ermöglicht. Es ist aber anspruchsvoll, in einer Klasse sowohl Schüler:innen zu fördern, die zu Hause Unterstützung erfahren, als auch jene, die wenig Hilfe haben. Doch genau das sollte die Aufgabe des Bildungssystems sein: Ausgleich zu schaffen und allen den gleichen Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Befürworter:innen der frühen Trennung in Hauptschule, Realschule und Gymnasium begründen diese jedoch oftmals mit verschiedenen Talenten und individuellen Bedürfnissen. Diese Argumentation, die nach wie vor am Leistungsprinzip festhält, ignoriert jedoch die Erkenntnisse aus der Bildungs- und Sozialforschung: So entsteht der trügerische Eindruck, dass gewisse soziale Schichten einfach intelligenter seien – ein Vorurteil, das längst überholt ist und in der heutigen Gesellschaft keine Grundlage mehr haben sollte. Demnach muss das deutsche Bildungssystem gerechter werden und allen Schüler:innen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft die gleichen Chancen bieten.