Lerndefizite nach Corona-Pandemie: Schüler mit Migrationshintergrund besonders betroffen

Es sitzen Kinder in einem Klassenzimmer und heben die Hand

Schüler:innen mit Migrationshintergrund sind besonders von den Folgen der Corona-Pandemie in Form von Leistungsdefiziten betroffen (Quelle: Canva)

Frühjahr 2020: Aufgrund der Corona-Pandemie bleiben die Schulen zeitweise geschlossen. Der digitale Unterricht wird als Notlösung eingeführt und es zeigt sich erstmals deutlich der große Nachholbedarf bezüglich der Digitalisierung an deutschen Schulen. Es offenbaren sich große Lücken in Bezug auf Medienkompetenz, die digitale Kluft wird zum ersten Mal deutlich spürbar und fehlende Standards bezüglich digitaler Tools und das Fehlen digital gestützter Lehrpläne zeigen sich. Zusätzlich sind insbesondere die Schüler:innen von einer Reihe an sozial-emotionalen Auswirkungen betroffen.

Seit dieser Zeit wird sich im Bildungssystem stets bemüht, herauszufinden, welche Bildungsindikatoren wie beispielsweise die Abbrecherquoten sich während der Corona-Pandemie verändert haben. Daraus sollen Rückschlüsse gezogen werden, welche expliziten Lernrückstände entstanden sind. Bildungsforscher:innen des Instituts für deutsche Wirtschaft (IW) haben deshalb die letzten PISA-Ergebnisse genauer untersucht.

Hintergrund ist das schlechte Abschneiden von Deutschland bei der letzten PISA-Studie im Jahr 2022. So hat sich gezeigt, dass sich die Leistungen der Schüler:innen in Deutschland insbesondere im Bereich Mathematik und Lesen stark verschlechtert haben. Die Lerndefizite fallen dabei bei Kindern mit Migrationshintergrund oder aus bildungsfernen Haushalten größer aus, als bei Kindern ohne Migrationshintergrund oder aus bildungsnahen Haushalten.

Faktoren, die den Distanzunterricht erschwert haben, waren unter anderem der fehlende Zugang zu digitalen Geräten, der Mangel an Lehrkräften und Defizite in der Erfahrung mit digitalem Unterricht. Besonders schwerwiegend: Inwieweit sich diese Faktoren auf die Schüler:innen auswirken, hängt von der jeweiligen sozio-ökonomischen Lage ab. Dabei brauchen gerade Kinder und Jugendliche, welche Zuhause nicht die erforderlichen Ressourcen wie zum Beispiel eine entsprechende technische Ausstattung haben oder auf eine direkte Betreuung zurückgreifen können, einen möglichst guten und umfangreichen Distanzunterricht. 

Einfluss auf die Lernergebnisse haben den empirischen Untersuchungen zufolge der berufliche Status der Eltern und das Sprechen der deutschen Sprache im Haushalt. Kinder mit Migrationshintergrund, die zuhause nicht Deutsch sprechen, weisen demnach in fast allen Bereichen größere Leistungsdefizite auf. Somit wurde durch die Corona-Pandemie dem deutschen Bildungswesen der Spiegel vorgehalten, wodurch sich eine deutliche Chancenungleichheit im Bildungssystem zeigte. 

Lösungsansätze für die entstandenen Schäden scheinen noch nicht flächendeckend umgesetzt zu werden. Obwohl Bildungsexpert:innen schon länger darauf hinweisen, dass die aufkeimenden Lücken nicht von alleine verschwinden werden. Der Schulpädagoge Klaus Zierer empfiehlt die Einführung umfangreicher digitaler Konzepte. Mit Blick auf die Corona-Pandemie macht er deutlich: "Was vielfach geschehen ist - Lernenden Tablets in die Hände zu drücken und zu hoffen, dass diese positiv wirken -, ist als gescheitert anzusehen".

Dass es in Deutschland eine Bildungskluft gibt, wird von einer Studie des ifo Instituts untermauert. So haben Kinder aus benachteiligten Verhältnissen in Brandenburg eine Wahrscheinlichkeit von 34,7 Prozent, später ein Gymnasium zu besuchen. Kinder aus günstigen Verhältnissen hingegen haben eine Chance von 65,7 Prozent. Es herrscht große Einigkeit darüber, diese Lücke zu schließen. Über die Art und Weise wird jedoch diskutiert. 

Was tun? IW-Forscher liefern Handlungsempfehlungen

Um die Defizite, die während Corona-Pandemie entstanden sind und von denen insbesondere Schüler:innen mit Migrationshintergrund betroffen sind, auszugleichen, empfehlen die Bildungsforscher:innen des IW eine Reihe von Maßnahmen

So brauche es gezielte Förderprogramme, welche die Lernlücken verringern und eine nachhaltige Chancengleichheit anstreben. Hierfür müssen Konzepte umgesetzt werden, welche die entstandenen Defizite kompensieren. Außerdem müssen die Ganztagsangebote erweitert und die Qualität erhöht werden. Dadurch ist es möglich, dass insbesondere für Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Haushalten ein Ort geschaffen wird, an dem sie individuell betreut werden. Der Fokus muss dabei insbesondere auf die Sprachförderung gelegt werden.

Darüber hinaus müssten  multiprofessionelle Teams an Schulen geschaffen werden, welche aus Lehrkräften, Erzieher:innen und weiteren pädagogischen Mitarbeitenden bestehen, so die Empfehlungen des IW. Dadurch kann der Fokus auf die individuelle Förderung gelegt werden und die Bedürfnisse der Schüler:innen in den Blick genommen werden. Ein weiterer wichtiger Punkt sind Elternpartnerschaften und Familienzentren. Da Eltern ohne Abschluss oder mit fehlenden Deutschkenntnissen oftmals weniger Kontakt zu den Lehrkräften haben, müssen fehlende Sprachkenntnisse als Barriere ausgemerzt werden. Dadurch kann eine gute Kooperation zwischen den Eltern und der Schule geschaffen werden. “Familienzentren können dazu beitragen, herkunftsbedingte Ungleichheiten abzubauen, da Familien in prekären Lebenslagen einfacher und direkter erreicht werden als über herkömmliche Unterstützungsangebote”, heißt es in dem Gutachten. 

Zudem kann die Ausweitung von Mentoring-Programmen zum Beispiel in Form von Online-Nachhilfeunterricht von Studierenden dabei helfen, dass Schüler:innen ihre Noten, Sozialkompetenz und Arbeitsmarktorientierung verbessern. Eine bedeutende Rolle spielt dabei die Finanzierung. So müssen ausreichend finanzielle Mittel für die Integrationsförderung zur Verfügung gestellt werden. Als Grundlage hierfür soll der Sozialindex dienen, der die familiären Hintergründe der Schüler:innen statistisch berücksichtigt. 

Ein weiterer großer Sektor ist die Verbesserung der Digitalisierung an Schulen. Hierzu muss die Ausstattung in Form von Informations- und Kommunikationstechnologien erfolgen. “In allen Schulen, bei Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern sind WLAN und digitale Endgeräte verfügbar zu machen sowie Lernmanagement-Systeme und internetbasierte Anwendungen für gemeinschaftliches Arbeiten einzusetzen”, heißt es weiter in dem Gutachten. Außerdem muss die digitale Ausbildung von Lehrkräften ausgebaut werden. Hierfür müssen entsprechende Konzepte für die Umsetzung der Digitalisierung geschaffen und die Unterstützung bei der IT-Administration verbessert werden. Außerdem soll das Schulfach Informatik weiter ausgeweitet werden. Einige Bundesländer haben bereits Informatik als Pflichtfach eingeführt. In Rheinland-Pfalz werden aktuell die notwendigen Rahmenbedingungen für die Einführung von Informatik als verpflichtendes Fach vom Bildungsministerium geprüft (Lehrer News berichtete). 

Diese Vorschläge stellen nur einen Bruchteil der Maßnahmen dar, welche die entstandenen Bildungsdefizite minimieren könnten und allen voran die Bedürfnisse der Schüler:innen mit Migrationshintergrund in den Blick nehmen. Für eine erfolgreiche Umsetzung müssen mehrere Faktoren berücksichtigt werden. Der Bundesvorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) Gerhard Brand, kritisiert beispielsweise die mangelnde Einheitlichkeit der Bundesländer. Die Aufholprogramme würden die Rückstände in der Bildung nur in manchen Regionen verringern.  "Wir sind noch lange nicht wieder an einem Zustand angekommen, der mit der Zeit vor Corona vergleichbar ist", erklärt Brand. Aus diesem Grund verlangt er bundeseinheitliche Standards. “Eine erneute Pandemie träfe die Schulen wieder mit voller Härte", so Brand. 

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