Lernen unter Luftangriffen: Der Kampf der ukrainischen Schulen um den Schulbetrieb

Von
Tobias Kempter
|
9
.
September 2024
|
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Ukraine Flagge

Nur die Hälfte der rund 3,9 Millionen Schüler:innen in der Ukraine können aufgrund des Krieges regulären Präsenzunterricht besuchen. (Quelle: Canva)

Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine am 24. Februar 2022 ist das Leben dort von tiefgreifenden Veränderungen und enormen Herausforderungen geprägt. Millionen von Menschen wurden aus ihrer Heimat vertrieben, Städte und Dörfer zerstört, und der Alltag vieler Ukrainer:innen steht seitdem im Zeichen des Überlebens. Inmitten dieses Chaos versuchen Lehrkräfte und Schüler:innen, den Schulbetrieb aufrechtzuerhalten – eine Aufgabe, die in den Kriegsregionen, insbesondere im Osten und Süden des Landes, nahezu unvorstellbar erscheint

Mit dem Ausbruch des Krieges stand das ukrainische Bildungssystem vor einer der größten Herausforderungen seiner Geschichte. Seit Februar 2022 wurden mehr als 1.300 Bildungseinrichtungen durch Bombenangriffe beschädigt oder vollständig zerstört. Jede fünfte Schule musste geschlossen werden, da es keine sicheren Schutzräume gibt. Dies hat dazu geführt, dass Millionen von jungen Ukrainer:innen keinen Zugang zu einem normalen Schulalltag haben.

Im vergangenen Schuljahr konnten aufgrund der anhaltenden Gewalt nur drei von fünf Schulen Präsenzunterricht anbieten. Insgesamt konnte nur rund die Hälfte der 3,9 Millionen schulpflichtigen Kinder in der Ukraine am Präsenzunterricht teilnehmen. Doch trotz dieser enormen Herausforderungen zeigt sich das ukrainische Bildungssystem als sehr resilient. Viele Schulen haben auf hybride Unterrichtsmodelle umgestellt und kombinieren Präsenzunterricht mit Online-Unterricht. Aber auch der Online-Unterricht wird oftmals durch Luftangriffe und häufige Stromausfälle unterbrochen, was den Schulalltag deutlich erschwert.

Unterricht im U-Bahnhof

In den Regionen der Ukraine, die stark umkämpft oder direkt an der Frontlinie liegen, ist die Situation besonders prekär. Der Schulbesuch wird hier häufig durch die ständige Gefahr von Angriffen und die Unsicherheit des täglichen Lebens erschwert. Viele Schulen in diesen Gebieten sind schwer beschädigt oder unzugänglich, sodass zwei von drei Kindern in diesen stark umkämpften Regionen nicht in Präsenz lernen können, sondern auf Online-Unterricht angewiesen sind.

In einigen besonders gefährdeten Gebieten, wie der Stadt Charkiw, die nur 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt liegt und nahezu täglich unter Beschuss steht, haben die Behörden ungewöhnliche Maßnahmen ergriffen. Dort wurden Klassenzimmer in U-Bahnhöfen eingerichtet, die als Schutzräume dienen. In diesen provisorischen Schulen, die tief unter der Erde liegen, können die Kinder und Jugendlichen trotz Luftangriffen sicher lernen. In Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, wurden 19 Klassenzimmer an fünf U-Bahn-Stationen eingerichtet, die es den Schüler:innen erlauben, am Präsenzunterricht teilnehmen zu können.

Bildung in den russisch besetzten Gebieten

In den von Russland besetzten Gebieten ist die Lage noch dramatischer. Schätzungen zufolge leben noch rund eine Million ukrainische Kinder im schulpflichtigen Alter in diesen Gebieten. Hier wird das ukrainische Bildungssystem systematisch unterdrückt, und russische Lehrpläne werden mit Zwang eingeführt. Diese erzwungene Russifizierung stellt eine Bedrohung für die kulturelle Identität der Ukraine dar, indem es beispielsweise keinen Zugang zu ukrainischsprachigem Unterricht gibt und die Propaganda des Kremls verbreitet wird. Laut Human Rights Watch verstoßen diese Maßnahmen gegen das humanitäre Völkerrecht und gegen internationale Menschenrechtsstandards, die das Recht auf Bildung schützen.

Darüber hinaus setzen die Besatzungsbehörden ukrainische Lehrkräfte massiv unter Druck, inhaftieren, misshandeln und foltern sie, um sie zur Zusammenarbeit oder zur Herausgabe von Schüler:innenakten und anderen Schuldaten zu zwingen. Teil des russischen Lehrplans ist es auch, dass die ukrainischen Jugendlichen eine militärische Ausbildung erhalten, um gegebenenfalls ab ihrem 18. Lebensjahr in das russische Militär eingezogen zu werden. Trotz dieser Maßnahmen der Besatzungsmacht nehmen laut ukrainischen Ministeriums für Bildung und Wissenschaft über 62.400 dieser Kinder weiterhin online am Unterricht von ukrainischen Sekundarschuleinrichtungen teil.

Zerstörte Bildungseinrichtungen und langfristige Folgen

Die massiven Zerstörungen und die Vertreibung von Millionen Menschen haben das ukrainische Bildungssystem an seine Belastungsgrenzen gebracht. Zahlreiche Lehrkräfte haben das Land verlassen oder sind im Krieg gefallen, was zu einem erheblichen Mangel an qualifiziertem Personal führt. In den Regionen, die von den Kriegshandlungen betroffen sind, stehen viele Schulen vor der Herausforderung, den Unterricht unter äußerst schwierigen Bedingungen aufrechtzuerhalten. Der Mangel an Ressourcen, die Zerstörung von Infrastruktur und die ständige Bedrohung durch Angriffe erschweren den Unterricht erheblich. Dennoch zeigen die Ukrainer:innen eine bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit. Viele Schulen haben kreative Lösungen entwickelt, um den Unterricht fortzusetzen.

Der Krieg hat aber sowohl kurz- als auch langfristig tiefgreifende Auswirkungen auf die ukrainischen Schüler:innen. Kurzfristig ist der Schulalltag für die meisten Kinder und Jugendlichen stark beeinträchtigt. Viele von ihnen sind langfristig traumatisiert, haben Angehörige oder Freund:innen verloren und leben in ständiger Angst vor neuen Angriffen. Diese psychische Belastung hat erhebliche Auswirkungen auf ihre Lernfähigkeit und ihre schulischen Leistungen.

Auf lange Sicht könnten die Folgen noch gravierender sein. Der Krieg hat die Bildungslaufbahn vieler junger Ukrainer:innen unterbrochen und es besteht die Gefahr, dass eine ganze Generation davon betroffen sein könnte, dass einige Schüler:innen ihre schulische Ausbildung nicht abschließen können. Dies könnte nicht nur ihre individuellen Zukunftsaussichten beeinträchtigen, sondern auch die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Ukraine insgesamt stark negativ beeinflussen. 

Ukrainische Flüchtlingskinder im deutschen Schulsystem

Während in der Ukraine selbst das Bildungssystem unter dem Krieg leidet, haben viele ukrainische Familien Zuflucht in Deutschland gefunden. Rund 200.000 ukrainische Kinder und Jugendliche besuchen mittlerweile deutsche Schulen, was sowohl die Schüler:innen, als auch die Lehrkräfte und Schulen vor große Herausforderungen stellt.

Ein Problem: Viele Schulen sind aufgrund des Lehrkräftemangels bereits jetzt überlastet und haben Schwierigkeiten, genügend qualifiziertes Personal zu finden, um die zusätzlichen Schüler:innen zu unterrichten. Zudem gibt es oft Sprachbarrieren, da viele der ukrainischen Kinder und Jugendlichen nur wenig oder gar kein Deutsch sprechen. Dies erschwert nicht nur den Unterricht, sondern auch die soziale Integration der Schüler:innen. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, haben viele Schulen spezielle Vorbereitungsklassen eingerichtet, in denen die Schüler:innen zunächst die deutsche Sprache erlernen, bevor sie in den regulären Unterricht integriert werden. Diese Klassen sind jedoch oft überfüllt, und es fehlt an ausreichend Lehrkräften, die über die notwendigen Qualifikationen verfügen.

Die Unterrichtsbedingungen für die geflüchteten ukrainischen Kinder variieren stark je nach Bundesland und Schule. Besonders in den großen Städten, in denen die Zahl der geflüchteten Schüler:innen besonders hoch ist, sind die Klassen oft überfüllt und es mangelt an individueller Förderung. Ein weiteres Problem ist die psychologische Betreuung der geflüchteten Kinder. Viele von ihnen haben traumatische Erlebnisse hinter sich und benötigen spezielle Unterstützung, um diese zu verarbeiten. In einigen Schulen gibt es spezielle Programme, die von Schulpsycholog:innen und Sozialarbeiter:innen betreut werden, doch auch hier fehlt es oft an Personal und finanziellen Mitteln (Lehrer News berichtete).

Trotz der unvorstellbaren Herausforderungen, die der Krieg mit sich bringt, zeigt sich die Entschlossenheit der Ukrainer:innen, aber auch die der Lehrkräfte und Schüler:innen, die sich nicht unterkriegen lassen. Wie denkt ihr über die aktuelle Situation an den Schulen in der Ukraine? Teilt eure Gedanken und Meinungen gerne in den Kommentaren! Weitere Artikel zum Thema Bildung in Krieg und Krise findet ihr in unserer Themenwoche.

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