Scheinbar undurchschaubar: Ein Buchstaben- und Zahlensalat im Matheunterricht (Quelle: Canva)
Der Kopf raucht, die Frustration steigt, auf dem Blatt Papier nur ein undurchschaubarer Buchstaben- und Zahlensalat. So sieht der Schulalltag vieler Schüler:innen in einem ganz bestimmten Fach aus: Mathe. In der TIMMS-Studie von 2019 lässt sich sogar ein Abwärtstrend erkennen: Immer mehr Grundschüler:innen haben Probleme mit dem Basiswissen. Und obwohl Mathe zu den beliebtesten MINT-Fächern zählt, wozu wir bereits in unserer Materialsammlung zur Verbesserung des Matheunterrichts berichtet haben, werden 15 Prozent der Schüler:innen von der Angst vor dem Matheunterricht geplagt und sogar jede:r Dritte hat Angst vor den Prüfungen. Doch woher kommt diese Angst? Was ist zu tun, um Schüler:innen das Mathe-Grauen zu nehmen und Begeisterung für die Welt der Zahlen zu säen?
Wer hätte gedacht, dass in der Antike diejenigen als „Kulturbanausen“ galten, die sich für eine mathematische Karriere entschieden? Denn eine Ausbildung in den Künsten Literatur und Musik genoss damals ein weitaus höheres Ansehen. Heute hat sich die Wahrnehmung gewandelt – wenn jemand das Studienfach oder den Leistungskurs Mathematik verkündet, wird anerkennend gepfiffen und es fallen Sätze wie „Also ich könnte das ja nicht“ oder „Mathe war immer mein Hassfach – Respekt“. Dennoch scheint ein Gefühl der Entfremdung und Frustration in dieser Anerkennung allgegenwärtig zu sein. Woran liegt das?
Überfliegt man den Lehrplan in Mathe und stolpert dabei über Polynomdivisionen und Integralrechnung, kommt einem das Fach schon ganz schön abstrakt und sperrig vor. Viele Schüler:innen haben genau dieses Problem. Während die Mengen in der Grundschule noch überschaubar sind und einen erkennbaren Bezug zur Realität haben, was den meisten Kindern Spaß im Umgang mit Zahlen bereitet, geht die Freude nach und nach verloren, sobald der Unterricht komplexer und die Konzepte und Formeln abstrakter werden. Denn in keinem Fach bauen die einzelnen Disziplinen so sehr aufeinander auf wie in Mathe. Und wenn das Fundament fehlt, dann lässt sich auch kein stabiles mathematisches Grundgerüst bauen.
Auch existiert ein „erblicher“ Teufelskreis: Eltern, die Probleme in Mathe hatten, geben ihre negativen Einstellungen und Ängste, gewollt oder ungewollt, an ihre Kinder weiter. „Ach, Mathe, das konnte ich auch nicht und habe ich selber nach der Schule nie mehr gebraucht“, lassen manche frustrierten Eltern verlauten. So erfüllt sich die Prophezeiung: Das Kind verfestigt die Überzeugung, sich „umsonst“ zu quälen.
Nicht zuletzt führt der hohe Leistungsanspruch in dem Fach zu erhöhtem Stress. Ein großes Problem ist dabei, dass die meisten Menschen noch immer der Überzeugung sind, entweder wird man mit einer gewissen Mathebegabung geboren oder eben nicht. Wer Mathe versteht, gilt als talentiert und schlau.
Diese Überzeugung führt jedoch in beiden Richtungen zu Angst: Die, die kein Mathe können, verlieren die Motivation, weil sie glauben, „keine Begabung“ zu haben, und die, die Mathe können, werden konstant mit der Angst konfrontiert, dass ihnen das Gegenteil jederzeit bewiesen werden könnte. Dabei liegen mangelnde mathematische Fähigkeiten weniger an einem Mangel an Intelligenz, sondern vielmehr an einem mangelnden Mengenverständnis. Etwas, das eigentlich bereits in der Grundschule vermittelt werden sollte.
Alle Kinder werden schon mit großen individuellen Unterschieden im Mengenverständnis eingeschult. Während einige das Arbeitsblatt in Lichtgeschwindigkeit ausfüllen, sitzen die Anderen mit gerunzelter Stirn und ausgestreckten Fingern vor ihren Rechenaufgaben. Die Schwierigkeit für die Lehrkräfte besteht daher, die Kinder mit Rechenproblemen rechtzeitig zu erkennen. Denn Zählen können Kinder ohne Mengenverständnis trotzdem. Die Lehrkräfte bleiben hier leider oftmals auf sich alleine gestellt. Viele Übungen in den klassischen Unterrichtsmaterialien fördern dieses Zählen statt Rechnen geradezu.
So werden die Kinder zwar schnell zu kleinen Zählmeistern, beispielsweise durch das Einkreisen von Mengen, das Dazumalen und Wegstreichen oder durch Schüttelboxen mit roten und blauen Plättchen. Die Rechenfertigkeit, die in den höheren Klassenstufen erfordert wird, kann aber nur mit einem ausgebildeten Mengenverständnis erlangt werden.
Für Kinder, die eine limitierte Sprachfertigkeit aufweisen, kommen außerdem weitere Hürden hinzu. Auf diese Weise wird ein großer Teil der Kinder früh in Mathe abgehängt, was sich meist nicht mehr aufholen lässt.
Laut dem Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar spielt zudem insgesamt die anhaltende föderale Bildungsungleichheit in Deutschland eine negative Rolle. Die bestehenden Unterschiede in den Lehrplänen der verschiedenen Bundesländer tragen zu den Herausforderungen im Mathematikunterricht bei. Lehrkräfte sehen sich oft mit der Schwierigkeit konfrontiert, Lehrinhalte an verschiedene Vorgaben anpassen zu müssen, was die Effektivität des Unterrichts beeinträchtigen kann. Yogeshwar betont daher die Notwendigkeit einer einheitlicheren Herangehensweise an das Mathematikunterrichtsniveau zwischen den Bundesländern. Darüber hinaus könnte eine gewisse Flexibilität in der Gestaltung des Lehrplans die Lehrkräfte bei der individuellen Förderung ihrer Schüler:innen unterstützen.
Der Matheunterricht hat aber noch ein weiteres großes Problem: Der Fokus liegt nicht selten auf dem reinen Reproduzieren. Lernt man die einzelnen Schritte auswendig, die notwendig sind, um eine Rechnung zu aufzustellen, kommt man erstaunlich weit. Das nötige Verständnis um die Gründe und Hintergründe ist dabei jedoch nicht unbedingt gegeben.
Auf diese Weise geht auch der kreative Aspekt der Mathematik verloren. Yogeshwar bezeichnet sie gar als Kunstform. Rechenprobleme werden im Unterricht allerdings nicht durch das kreative Ausprobieren, Scheitern, das erneute Ausprobieren und schließlichem Erfolg gelöst, sondern häufig durch die schlichte Nachahmung eines vorgegebenen Rechenwegs.
Laut der Talis-Studie von 2020 ist der Matheunterricht aber gerade dann erfolgreich, wenn er auf schlussfolgerndes Denken und Verstehen ausgerichtet ist, inhaltliche Herausforderungen stellt und an die Lebenswelt und das Vorwissen der Schüler:innen anknüpft. Der klassische Unterricht in Mathe fördert also die Frustration, die sich oft zu einer Angst verfestigt. Die Schulzeit hinterlasse dadurch bei vielen eine Art Trauma, so Yogeshwar.
Dass der Matheunterricht nicht nur ein Image-Problem, sondern ganz reale Mängel aufweist, ist kein Geheimnis. In den letzten Jahren haben sich zahlreiche Projekte und verschiedene Ansätze entwickelt, die sich das Ziel gesetzt haben, den Matheunterricht erlebbar zu machen, Aktivität und Aufmerksamkeit zu fördern und einen Bezug zur Welt herzustellen.
Aufbauend auf der gezielten Förderung des Mengenverständnisses können Lehrkräfte beispielsweise das mathematische Verständnis durch Forschendes Lernen fördern. Im Matheunterricht wird dadurch eine aktive, ausprobierende Herangehensweise begünstigt, um tiefergehendes Verständnis durch Aufgabenvariationen und Untersuchungen von Zahlbeziehungen zu fördern. Somit wird das Lernen anschaulicher und praxisnah.
Aber auch das Dialogische Lernen kann zu mehr Verständnis durch den direkten Einbezug der Schüler:innen mithilfe von Fragen wie „Was denkst du darüber?“ beitragen. Dieser Ansatz verspricht, die Kinder zum selbstständigen Schätzen, Abwägen und Argumentieren zu animieren und mithilfe der Eigeninitiative die Frustrationstoleranz zu verbessern.
Ein Beispiel für ein Projekt zur Förderung des Verständnisses ist die fantasievolle Abenteuerreise Mathalaxie, durch die Kinder spielerisch mathematische Fähigkeiten erlangen. Während sie sich darauf vorbereiten, ein Alien im Weltraum zu besuchen, werden nicht nur mathematische Fertigkeiten erworben, sondern auch soziale Kompetenzen, Selbstvertrauen und eine gewisse Emotionalität vermittelt.
Das auf zehn Jahre ausgelegte Projekt QuaMath, das von der KMK gefördert wird, soll die mathematische Bildung in Deutschland durch gezielte Fortbildungen und Ressourcen für Lehrer:innen verbessern, indem die Lebenswelten der Schüler:innen einbezogen werden. Mit dem diesjährigen Projektstart können sich Schulen teilweise noch bis zum 15. Dezember bewerben und Lehrkraftteams zu Multiplikator:innen des Projekts ausbilden lassen.
Viele dieser Projekte versprechen eine Revolution im Klassenzimmer. Ob und wie weit sie ihre Versprechen halten, wird sich in den kommenden Jahren erst zeigen. Zu hoffen bleibt, dass der Matheunterricht bald für alle zugänglich gemacht wird – auch für diejenigen, die bisher noch auf ihre Finger angewiesen sind, um den Durchblick zu behalten!
Wie gestaltet ihr euren Matheunterricht und was muss sich eurer Meinung nach am Lehrplan ändern? Schreibt eure Ideen gerne in die Kommentare.