Seelische Wundversorgung – Erste Hilfe für die Psyche?

Von
Erik Schimpf
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19
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October 2022
|
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Erste Hilfe und Wundversorgung – jeder hat bestimmt schon einmal davon gehört, egal ob durch die Arbeit, den Freundeskreis oder die eigene Familie. Verletzung, Vergiftungen, Erkrankungen oder Herz-Kreislauf-Probleme, Notfälle erfordern ein schnelles Eingreifen. Bei einem möglichen Ernstfall oder einem körperlichen Leiden, wie beispielsweise bei einem Herzinfarkt, sollte man vorbereitet sein und wissen, was zu tun ist. Gerade Erste-Hilfe-Maßnahmen sind von enormer Bedeutung und können nachweislich bis zum Eintreffen des Notdienstes Menschenleben retten und langfristige körperliche Schäden verhindern. Doch wie sieht es bei psychischen Notfällen aus? Angehörige, Freunde oder Kollegen bemerken zwar oft, wenn etwas nicht stimmt, und wollen gerne helfen – aber wie?

Seelische Notlagen erkennen

 

Betroffenen fällt es oft schwer, ihre tiefen seelischen Probleme mitzuteilen, sie haben Angst, verurteilt oder ausgegrenzt zu werden. Sie bleiben mit ihren Gedanken und Gefühlen alleine zurück oder erkennen ihre seelische Notlage zu spät. Dass dabei Zeit ein entscheidender Faktor sein kann, um eine psychische Notlage zu erkennen, wissen viele nicht bei einer Depression im Frühstadium beispielsweis. Laut dem Klassifizierungssystem ICD-10 sind erste Anzeichen einer beginnenden Depression: beinahe ununterbrochene depressive Stimmung in starkem Ausmaß, die nicht von außen beeinflussbar ist und mindestens zwei Wochen anhält, Verlust von Freude und Interessen, Antriebslosigkeit oder Müdigkeit. Schon bei Verdacht einer Depression wird empfohlen, Kontakt zu einem Arzt aufzunehmen.

Doch die Warnsignale und die seelische Stimmung Betroffener richtig zu erkennen, kann einige Zeit in Anspruch nehmen. Im Durchschnitt vergehen elf Monate, bevor Betroffene professionelle  Hilfe in Anspruch nehmen. Die Lebensqualität wird in dieser Zeit erheblich eingeschränkt, je früher eine seelische Notlage erkannt wird, desto besser kann sie behandelt und der Leidensweg verkürzt werden. Häufig nehmen Erkrankte nicht an, an einer psychischen, sondern an einem körperlichen Leiden erkrankt zu sein, durch Scham und Angst vor Diskrimminirung nehmen Betroffene Hilfsangebote nicht in Anspruch.

Jede vierte Person erkrankt im Jahr an einer psychischen Störung, das bedeutet, dass auch die Zahlen psychischer Krankheiten in Zukunft zunehmen und auf breitere gesellschaftliche Relevanz treffen. Eine repräsentative Studie aus dem Jahr 2014 ergab, dass im bundesweiten Durchschnitt 27,7 Prozent der Männer und Frauen in Deutschland unter psychischen Störungen wie Depressionen, Psychosen, Panikattacken und Angstzuständen litten. Nur ein Viertel der Betroffenen gab an, sich aktuell in professioneller, klinischer Behandlung zu befinden. Aus einem Face-to-Face Interview aus dem Jahr 2011, welches sich der Einstellung von Betroffenen zur Behandlung von Alkoholismus, Schizophrenie und Depressionen beschäftigte, geht hervor, dass die Behandlungsempfehlung von 1990 bis 2011 in der Gruppe der Personen die an einer Depression litten, auf bis 14 Prozent angestiegen war. Psychische Krankheiten waren vor einigen Jahren gesellschaftlich deutlich weniger akzeptiert als heute, Gründe dafür sind eine mittlerweile breitere gesellschaftliche Aufklärung über psychische Erkrankungen und Anti-Stigma-Kampagnen.

MHFA – Notfallseelsorge für alle?

Die sogenannte Mental Health First Aid, kurz MHFA-Initiative, ermöglicht es Personen, psychische Notfallsituationen einzuschätzen und Betroffenen beizustehen, Hilfe zu leisten und den Weg in eine professionelle psychische Beratung zu ebnen. Hinter der Initiative in Deutschland steht das Zentralinstitut für seelische Gesundheit im Verbund mit der Beisheim Stiftung, beide Institutionen setzen sich seit 2020 dafür ein, dass jede:er in einem seelischen Notfall Erste Hilfe leisten kann. Die Wirksamkeit der Kurse ist wissenschaftlich durch mehrere Studien und Pilotprojekte durch die MHFA-Australien evaluiert und von der Behörde SMASHA des US-Gesundheitsministeriums in das National Registry of Evidence-based-Programs and Practices, kurz NREPP aufgenommen. Das US-amerikanische Programm klassifiziert und bewertet die Wirksamkeit von Präventionsmaßnahmen gegen Drogenmissbrauch und psychische Erkrankungen. 

Die offizielle deutsche Webseite der MHFA-Initiative bietet ergänzend zu den Kursen verschiedene Richtlinien zu den einzelnen Bereichen von psychischen Erkrankungen und Problemen auch online und kostenlos zum Herunterladen an. Darunter finden sich verschiedene Themen wie der Umgang mit Panikattacken, traumatischen Ereignissen oder psychischen Problemen am Arbeitsplatz. Diese Richtlinien bieten eine Art  Handlungsempfehlung, um in einer psychischen Notlage angemessen mit den Betroffenen umgehen zu können. Darin enthalten sind beispielsweise auch sogenannte Dos and Don‘ts für eine konfliktfreie Kommunikation. 

Wie sinnvoll sind seelische Notfallkurse für den Lehrbetrieb an Schulen?

Die Arbeit für Lehrer ist in den letzten Jahren immer multiprofessioneller geworden, Themenschwerpunkte wie Inklusion, Digitalisierung, Lehrermangel und Kürzungen des Fachunterrichts stellen große Herausforderungen für die Institution Schule und ihre Mitarbeitenden dar. Darüber hinaus wird das Defizit von Lehrkräften bis 2030 laut KMK-Prognosen nur für die Sekundarstufe I  circa 2.180 Lehrkräfte betragen. Bundesweit werden bis 2035 noch 23.800 Lehrkräfte fehlen. Daraus lässt sich ableiten, dass bestimmte Unterrichtsfächer und strukturelle Probleme an Schulen priorisiert werden. Lehrer:innen werden hierbei den klassischen Beruf einer vollwertigen psychologischen Fachkraft nicht ersetzen können. 

Der Schulalltag von Lehrer:innen setzt sich nicht nur mit der eigentlichen Lehrtätigkeit auseinander, sondern auch mit dem Trösten, Schlichten, Vermitteln oder Zuhören, zwischenmenschlichen Beziehungen.  Die Sensibilisierung von Lehrkräften zu Themen wie Mobbing, Angstzuständen aber auch Suizidgedanken oder Depressionen kann nachhaltig helfen, den Lehralltag für Schüler:innen und Lehrer:innen  gleichermaßen angenehmer zu gestalten. Gerade Kinder und Jugendliche zählen zu den vulnerablen Gruppen – Sie besitzen keine Vorerfahrungen mit bestimmten Situationen, wie die Corona-Pandemie gezeigt hat. 

Laut einer Langzeituntersuchung des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf gaben 87 Prozent der 7-17 Jährigen an, sich in den Jahren 2020 bis 2021 psychisch belastet zu fühlen. Genannte Belastungen waren Angstzustände, depressive Symptome und psychosomatische Beschwerden. Zu einer Studie der Bertelsmann Stiftung hat der Forschungsverbund der Universität Frankfurt und Hildesheim Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 15 und 30 Jahren zu ihren Sorgen und Bedürfnissen befragt. Viele der Befragten gaben an, sich durch die Corona-Pandemie übergangen zu fühlen, dazu forderten sie unter anderem mehr Mitgestaltung ihrer eigenen Zukunft. Die Angst vor finanziellen Problemen, Zukunftsängsten, Einsamkeit oder psychischen Belastungen waren in der Studie als „besonders ausgeprägt“ genannt worden. 

Schulpsychologen verfügen bereits über diese Kompetenzen, um genau diesen Problemen entgegenzuwirken, jedoch sind auch hier massive personelle Fehlentwicklungen zu verzeichnen. Auf einen einzigen Schulpsychologen in Niedersachsen kommen laut einer Studie der Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen von 2018 etwa 15.000 Schüler:innen und 1.000 Lehrer:innen. Diese enormen Zahlen zeigen, dass eine langfristige und intensive Begleitung bei psychischen Sorgen oder Problemen personell nicht stattfinden kann. Bei akuten Problemen wie Suizidandrohungen, Verhaltensauffälligkeiten heißt es dann, Geduld zu haben, Geduld, die in Problemsituationen fehlt, da sie einen schnellen, präventiven Lösungsansatz bedarf. 

Psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen lassen sich teilweise schlechter identifizieren, da viele der Symptome als "frühreif'' oder als Teil der "Pubertät" interpretiert werden. Die deutsche Depressionshilfe schätzt, dass drei Prozent, also ein:e Schüler:in pro Schulklasse an Depressionen erkranken, umso mehr wäre es wünschenswert, Frühwarnsignale bei Schüler:innen zu erkennen und vorbeugend zu handeln. Durch das Projekt des Diskussionsforums Depression e. V. und der deutschen Depressionshilfe ist Fideo entstanden, hier können Betroffene als auch Angehörige Informationen und Hilfe zum Thema Depression erhalten. Das Projekt legt dabei den Schwerpunkt auf Information und Selbsthilfe als ergänzende Hilfestellung. Ein weiteres Angebot ist das  Cathy-Hummels-Programm, dieses soll Jugendliche über Depression und psychische Erkrankungen aufklären und Barrieren und Vorurteile abbauen. Die Stiftung der deutschen Depressionshilfe plant dabei zukünftig Online-Fortbildungen, Erste-Hilfe-Kurse für die Psyche und Video-Tutorials für Lehrer:innen und  Schüler:innen zum Thema Depression und mentale Gesundheit.

Die Beziehungsebene zwischen Lehrer:innen und Schüler:innen kann hier  genutzt werden, da ein Pädagoge, wie ein oder eine (Klassen)Lehrer:in, vor Ort die Klassenstruktur besser kennt als ein Schulpsychologe oder Vertrauenslehrer:innen. Lehrer:innen könnten hier für den seelischen Notfall die Schere zwischen Konflikten und Problemen schließen. Schließlich teilen sich Schüler:innen und Lehrer:innen täglich einen Unterrichtsraum, sie begegnen sich unausweichlich in ihrer parallelen Lebenswelt. Durch ähnliche Angebote wie die der MHFA-Initiative oder der deutschen Depressionenhilfe könnten präventive Leitsymptome wie Sorgen, Ängste oder Probleme bestenfalls schnellstmöglich erkannt werden. Dabei geht es nicht darum, personelle Verantwortung auf Lehrer:innen abzuwälzen, ein offener und wertfreier Umgang im Klassenzimmer kann bereits helfen, Gesprächsangebote und weiterführende Hilfen mit Schüler:innen zu vereinbaren. Langfristig muss aber auf politischer Ebene diskutiert werden, neue Stellen für Fachkräfte wie  Schulpsychologen und Sozialarbeiter zu schaffen.

Was haltet ihr von Projekten wie der MHFA-Initiative für Lehrer:innen?  Lasst es uns gerne in den Kommentaren wissen.

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