Finnland gilt nicht nur als glücklichstes Land der Welt, auch in Sachen Bildung ist das skandinavische Land vorne dabei. (Quelle: Canva)
In den letzten Jahren hat das finnische Bildungssystem weltweit Aufmerksamkeit erregt und Bewunderung geweckt. Von seinem Fokus auf Chancengleichheit bis hin zu seinem autonomen Lehransatz gilt es vielen anderen Ländern als Paradebeispiel für erfolgreiche Bildungssysteme. Doch während es einst als Vorbild galt, zeigen die jüngsten PISA-Ergebnisse einen Abwärtstrend. In unserer Serie Bildungssysteme der Welt werfen wir nun nach Ländern wie Japan, den USA und Belgien einen genaueren Blick auf das Schulsystem des glücklichsten Landes der Welt: Finnland!
Das finnische Bildungssystem ist in mehrere Stufen gegliedert. In Finnland herrscht eine Lernpflicht und keine Schulpflicht, das heißt, Kinder sind verpflichtet, Grundbildung zu erhalten, aber nicht unbedingt durch das Teilnehmen an einer Schule. Viele Eltern unterrichten ihre Kinder beispielsweise zu Hause. Die Lernpflicht beginnt mit dem siebten Lebensjahr und endet mit der neunten Klasse mit ungefähr 16 Jahren.
Vorschulische Bildung (Esikoulu): Die meisten finnischen Kinder beginnen ihre Bildung in der einjährigen Vorschule im Alter von sechs Jahren. Alle Kinder haben das Recht, einen Platz in einer Vorschule zu bekommen. Sie ist aber nicht obligatorisch. Bereits hier werden erste Stärken und Schwächen der Kinder herausgearbeitet, um sie gut auf die Schule vorzubereiten. Es werden bereits Fächer wie Mathe, Kunst oder Ethik gelehrt, die Vermittlung passiert aber spielerisch. Im Fokus liegt die Förderung der Lernbereitschaft durch Aktivitäten und Spiele, um so das erste Grundwissen sowie erste Lese- und Schreibfähigkeit zu erlernen. Eine Bewertung findet nicht statt, nur der Entwicklungsprozess wird festgehalten.
Gemeinschaftsschule (Peruskoulu): Die Gemeinschaftsschule in Finnland ist für alle Kinder obligatorisch und dauert in der Regel neun Jahre, von der ersten bis zur neunten Klasse. Anders als z. B. in Deutschland ist man also vom siebten bis zum 16. Lebensjahr in einer einheitlichen Schulart. Der Lehrplan der Gemeinschaftsschule ist breit gefächert und umfasst Fächer wie Mathematik, Naturwissenschaften, Sprachen, Kunst und Handwerk. Die ersten sechs Jahre unterrichtet ein Klassenlehrer die meisten Fächer, in den letzten drei Jahren übernimmt dann eine Fachlehrkraft für jedes Fach. Auch das Thema Noten wird in Finnland anders angegangen: In den ersten vier Jahren gibt es keine Bewertung in Form von Noten. Ab der fünften Klasse können Noten vergeben werden, vorgeschrieben ist es aber erst ab der neunten Klasse. Dann wird auf einer Skala von eins bis zehn, wobei zehn die beste Note ist, bewertet. Zu jeder Note muss es laut Gesetz einen Kommentar bzw. eine schriftliche Bewertung geben. Eine Gesamtbewertung der einzelnen Schüler:innen findet immer zum Schuljahresende statt, wobei dann auch entschieden wird, ob diese:r in die nächste Klassenstufe kann. Am Ende der Gemeinschaftsschule gibt es keine Prüfung, nur ein Zeugnis, das den Besuch bestätigt und die Bewerbung an die weiterführenden Schulen ermöglicht.
Weiterführende Bildung: Nach Abschluss der Gemeinschaftsschule haben die Schüler:innen die Möglichkeit, ihre Bildung in einem weiterführenden Gymnasium (Lukio) oder einer Berufsschule (Ammattikoulu) fortzusetzen. Über 90 Prozent aller finnischen Jugendlichen machen ihren Abschluss in den weiterführenden Schulen. Beide Abschlüsse qualifizieren für einen Hochschulzugang.
Im Gymnasium, das in der Regel drei Jahre dauert, können sich die Schüler:innen relativ frei ihren eigenen Lernplan zusammenstellen und sind nicht in Klassen geteilt, sondern wählen Pflicht- und Wahlfächer. Auch Fächer aus der beruflichen Schule sind wählbar. Am Ende wird eine Abiturprüfung geschrieben über vier Fächer: Finnisch, eine Fremdsprache, Mathematik oder ein Fach der Geistes- oder Naturwissenschaft. Ca. 60 Prozent entscheiden sich für das Gymnasium.
In der Berufsschule, die drei Jahre dauert, kann zwischen acht Ausbildungswegen mit 52 Fachrichtungen gewählt werden. Mindestens ein halbes Jahr Praktikum im Betrieb ist auch angesetzt. Auch hier können Pflicht- und Wahlmodule gewählt werden. Bewertet werden die Schüler:innen in praktischen Leistungsnachweisen, die der fachlichen Anforderung des Berufes entsprechen. Damit werden sie authentisch bereits in eine Arbeitsumgebung eingeführt. Betriebe und Unternehmen arbeiten dabei eng mit den Schulen zusammen und beschließen zusammen die Qualifikationen und Ausbildungsanforderungen. Ca. 40 Prozent der Schüler:innen machen auf der Berufsschule weiter.
Finnlands Schulsystem wird häufig als besonders gerecht und zugänglich beschrieben. Von der Vorschule bis zu den höheren Bildungswegen ist Bildung kostenfrei, dazu zählen auch die Schulmaterialien und das Schulessen. Privatschulen oder Sonderschulen gibt es nur wenige, wodurch jedes Kind die gleiche Bildung angeboten bekommt. Schüler:innen mit Lernschwierigkeiten werden in die normale Gemeinschaftsschule aufgenommen und dort dann durch Zusatzprogramme und Betreuung speziell gefördert.
Im Unterricht, bei dem statt Frontalunterricht oftmals Gruppenarbeit im Fokus steht, wird großer Wert auf individuelle Förderung statt Leistungskonkurrenz und Bewertung gelegt. Auch die Klassen sind mit durchschnittlich 20 Schüler:innen relativ klein, sodass die Lehrkraft besser auf einzelne Fragen eingehen kann. Da schwächere und stärkere Schüler:innen zusammen unterrichtet werden, setzt das Konzept der Gemeinschaftsschule auf gegenseitige Hilfe auch unter den Mitschüler:innen. Wenn jemand schneller eine Aufgabe erledigt hat, hilft er denjenigen, die noch Hilfe brauchen. Auch Sonderpädagog:innen sowie Psycholog:innen unterstützen die Lehrkräfte im Unterricht. Da der Klassenlehrer die ersten sechs Jahre eine eigene Klasse betreut, entsteht eine vertraute Beziehung, sodass das Verhältnis zwischen Lehrer:innen und Schüler:innen locker und herzlich ist. In der Regel duzen sie sich sogar und essen gemeinsam Mittagessen. Außerdem besitzen die Schulen und Lehrkräfte selbst viel Autonomie in der Gestaltung ihrer Lehrpläne und entscheiden selbst, welche Lernmethoden oder Materialien sie benutzen wollen. Damit können sich die Lehrer:innen besser an ihre Schüler:innen anpassen.
Anders als in Deutschland werden die Kinder nicht durch ihre Grundschulleistungen in verschiedene Schularten unterteilt. Sie bleiben in der Gemeinschaftsschule bis zum 16 Lebensjahr zusammen. Dieses Konzept ist laut Schulentwicklungsforscherin Marja Martikainen einer der Gründe für Finnlands gute Bildungsergebnisse. Dadurch kann besser eingeschätzt werden, was die Kinder können, da sie mehr Zeit haben, ihre Interessen und Stärken herauszubilden und sich zu entwickeln, so Martikainen. Die spätere Trennung, die in Finnland erst mit 16. Jahren bzw. in der neunten Klasse passiert, entscheidet dann nur noch, welchen weiteren Bildungsweg sie absolvieren wollen, also Studium oder Ausbildung. Eine Vorselektion und damit oftmals eine Vorverurteilung, wie häufig die Kritik am deutschen Schulsystem lautet, passiert also nicht. Ab der siebten Klasse bekommen die Kinder auch Orientierungshilfe und Beratungsangebote für ihre weiteren Bildungsmöglichkeiten. Entweder im Einzelgespräch oder durch Unterrichtseinheiten mit speziell ausgebildeten Beratungslehrer:innen können sich die Schüler:innen jederzeit bei Problemen und Unsicherheit melden und über ihre Wünsche und Zukunftspläne reden.
Ein zweiter wichtiger Punkt ist laut Martikainen die Lehrer:innenausbildung. Die Lehrkräfte haben in Finnland eine hohe soziale Stellung. Daher ist das Lehramtsstudium eine gefragte Studienrichtung, nur etwa 10 Prozent der Bewerber:innen werden überhaupt für einen Platz genommen. Anders als in Deutschland spielen die Abiturnoten dabei keine Rolle. Stattdessen müssen die Bewerber:innen ein strenges Auswahlverfahren durchlaufen. In einer schriftlichen Prüfung werden ihre akademischen Fähigkeiten, wie Studienverständnis, getestet. Danach gibt es weitere Eignungstests und Interviews. Nicht nur die Lehrer:innen, sondern auch Erzieher:innen für Kitas absolvieren eine universitäre Ausbildung.
Ein weitere Besonderheit Finnlands ist das seit 2016 verfolgte Phenomenon-Based Learning (PhenoBL) bzw. der Phänomenunterricht in Schulen. PhenoBL ist eine pädagogische Methode, die darauf abzielt, verschiedene Schulfächer und Themenbereiche miteinander zu verschmelzen. Anstatt jedes Fach isoliert zu unterrichten, werden Themen oder Phänomene in Projekten gelehrt, die gleich mehrere Disziplinen umfassen. Beispielsweise wird der Zweite Weltkrieg aus geschichtlicher, geographischer und mathematischer Sicht behandelt. Alle Schulen müssen so ein Projekt, das dann mehrere Wochen umspannt, mindestens einmal im Jahr anbieten. Dabei wird den Schulen und Lehrkräften aber viel Freiraum gelassen.
Im Phänomenunterricht arbeiten die Schüler:innen oft in Gruppen zusammen, um komplexe Probleme zu erforschen und Zusammenhänge zu erkennen. Dabei geht es auch um die praktische Anwendung des Wissens in realen Situationen. Anstatt nur theoretisches Wissen zu vermitteln, werden die Schüler:innen ermutigt, ihr gelerntes Wissen in konkreten Projekten anzuwenden, sei es durch Experimente, Feldstudien oder andere praktische Aktivitäten.
Die aktuellen PISA-Ergebnisse stellen nicht nur für Deutschland, sondern auch für Finnland, das einst als Bildungsvorbild galt, eine Enttäuschung dar. Seit 2006 verschlechterte sich die Leistung Finnlands. Strukturell hat sich im finnischen Bildungssystem zwar nichts geändert, seit Ende der 1990er Jahre wurden aber verstärkt pädagogische Konzepte verbreitet, die das selbstgesteuerte Lernen fokussieren. Im Gespräch mit Schulportal sieht der finnische Bildungshistoriker Jari Salminen von der Universität Helsinki die Einführung solcher Konzepte als kritisch an, da sie, um gut zu funktionieren, sorgfältig entwickelt und ausprobiert werden müssen. In Finnland allerdings seien diese viel zu schnell eingeführt worden. Das durchschnittliche Kind könne nicht selbstgesteuert arbeiten, so der Historiker. Damit einhergehend steht auch die Einführung von Schulen ohne Klassenzimmer bei Lehrkräften und Forschenden in der Kritik. Auch die fortschreitende Digitalisierung ist ein viel kritisiertes Thema. Eltern und Lehrkräfte sehen eine starke Ablenkung und sinkende Konzentration durch Smartphones. Ein Handyverbot für Schulen steht schon länger im Raum. Zusätzlich will die neue rechtskonservative finnische Regierung die Mittel für die Grundbildung um 200 Millionen Euro aufstocken, um sicherzustellen, dass die Schüler:innen die grundlegenden Fähigkeiten für das Lesen, Schreiben und Mathematik erwerben. Trotz des Abwärtstrends gehört Finnland immer noch zu den Spitzenreitern und schneidet in allen drei Bereichen über dem Durschnitt ab.
Kann sich das deutsche Schulsystem von Finnland etwas abschauen? Schreibt es uns in die Kommentare!