Die Erinnerung lebendig halten: Lehrer-News im Gespräch mit den “Zweitzeugen”

Von
Erik Schimpf
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10
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December 2022
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| sponsored

Der Verein Zweitzeugen e.V. sammelt  (Über)Lebensgeschichten von Opfern und Betroffenen des Nationalsozialismus  und möchte damit einen wichtigen Beitrag zur Erinnerungskultur  leisten, gegen das Vergessen. Am Tag der Menschenrechte wird nicht nur der Allgemeinen Erklärung und Bekennung zu den Menschenrechten der Generalversammlungen der Vereinten Nation von 1948 gedacht, sondern auch an das aktive Handeln und Einstehen für Freiheit, Würde und Gleichberechtigung und gegen Ideologien, Unterdrückung und Intoleranz. Lehrer-News durfte  mit der Projektleiterin Bernadette Schendina über ihre Arbeit bei Zweitzeugen  e.V. sprechen. Mit ihrem vierköpfigen Team  entwickelt sie seit 2022 digitale Geschichten von Zeitzeugen für die Lernplattform ›Werde Zweitzeug:in‹. Damit  junge Menschen auf vielfältige Weise ermutigt und befähigt durch das Weitergeben der Geschichten von Überlebenden des Holocaust selbst zu zweiten Zeug:innen werden. Dabei lernen Kinder und Jugendlich  wie sich gegen Antisemitismus und andere Diskriminierungsformen in unsere Gesellschaft einsetzen können. Mittlerweile ist der ZWEITZEUGEN  e.V. 12 Jahre jung und hat  insgesamt schon über 20.000 junge Menschen zu Zweitzeug:innen gemacht.

Lehrer-News: Könntest Du ein bisschen über deine eigene Person und das Projekt erzählen, wie bist Du zu dem Projekt gekommen, mit welchem Gedanken ist es entstanden?

Schendina: Als ich ZWEITZEUGEN e.V. kennengelernt habe, war ich gerade 20 Jahre alt, lebte in Bochum und habe meinen Bachelor in Geschichte gemacht. Mein Kommilitone erzählte beim Kaffeetrinken von diesem Verein, der sich Holocaust-Education für junge Menschen durch die Weitergabe von Lebensgeschichten von Zeitzeug:innen zur Aufgabe gemacht hat. Ständig haben wir im Studium diskutiert: Was passiert, wenn die Zeitzeug:innen des Holocaust nicht mehr leben? Um vielleicht eine Antwort auf diese Frage zu bekommen, wollte ich mich im Verein engagieren. Ein paar Wochen später stand ich dann bereits vor meiner ersten Klasse und habe 12-jährigen Jugendlichen von der Holocaust-Überlebenden Schwester Johanna erzählt. Davon, wie sie ab 1933 diskriminiert wurde und wie sie nach 1945 zurück nach Recklinghausen ging, ins Kloster eintrat und das Jüdische Museum in Dorsten mitgründete. Die Klasse saß vor mir, ganz still und aufmerksam und später mit vielen Fragen, die wir diskutierten. Sechs Unterrichtsstunden später schaute ich in die mitfühlenden Augen von über 20 neuen Zweitzeug:innen. Sie schrieben Schwester Johanna Briefe, in denen sie ihr dankten, ihren Mut bewunderten und ihr gute Wünsche schickten. Das ist jetzt fast fünf Jahre her. Seitdem habe ich viel im Verein gelernt und meine Expertise einbringen können. Inzwischen leite ich zusammen mit meiner Kollegin das Team Ausstellungen und habe maßgeblich am Podcast des Vereins mitgearbeitet – aktuell erarbeiten wir die 2. Staffel. 

Lehrer-News: Aus welchen Sparten der Vermittlung kommt euer Team?

Schendina: Wir erzählen in unserer Arbeit von Zeitzeug:innen des Holocaust und des Nationalsozialismus. Wie Diskriminierungen anfingen, sich auf jedes einzelne Leben auswirken und welche Erfahrungen sie machen. Wir berichten auch von Mut, Freund:innenschaften, Träumen, dem Verliebtsein und wie es für die Zeitzeug:innen nach 1945 weiter ging – was sie ermutigte, weiterzuleben und zu erzählen. Holocaust-Education ist der Inhalt unserer Workshops, AGs, Projektwochen, in unserer Ausstellung, aber auch in unserem Podcast, in Vorträgen und auf unserer neuen Lernplattform. Mit rund 130 Ehrenamtlichen, circa 20 Hauptamtlichen und unserem Beirat sind wir im Verein fachlich breit aufgestellt und bringen viele verschiedene Fähigkeiten und Perspektiven ein. Ein Beispiel: Unser ›Team Bildung‹, das vor allem die Workshops durchführt und Methoden erarbeitet, besteht zu einem großen Teil aus (ehemaligen) Student:innen der Geschichte bzw. Public History, der Soziologie und Sozialwissenschaften. Auch unser ›Team Digitale Bildung‹ ist interdisziplinär aufgestellt: Eine unserer Bildungsreferent:innen ist ›im echten Leben‹, wie sie immer so schön sagt, Grundschullehrerin. Unsere zweite Bildungsreferentin arbeitet hauptberuflich an einer Hochschule und hat dort Schwerpunkte in den Themen Digitalisierung und Partizipation. Der dritte im Bunde ist unser Programmierer und Designer. Ich selbst leite als studierte Public Historian das Projekt.

Lehrer-News: Warum hat genau dieses Thema aktuell so große Bedeutung?

Schendina: Schauen wir uns doch einmal um! Antisemitische Vorfälle nehmen in ihrer Häufigkeit zu und rechtsextreme Parteien gewinnen in ganz Europa seit Jahren zulauf. Deswegen wollen wir insbesondere junge Menschen stark machen, sich gegen Antisemitismus und jede Form von Diskriminierung einzusetzen und eine offene demokratische Gesellschaft mitzugestalten. Dabei nimmt Digitalisierung, insbesondere katalysiert durch die Corona-Krise, eine immer präsentere und wichtigere Rolle in unserer Gesellschaft und in unserem Bildungssystem ein. Deshalb beginnen wir damit, digitale Holcoaust-Education mit ihren vielseitigen Chancen zu gestalten.

Lehrer-News: Menschen uneingeschränkte gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen, ist euch sehr wichtig. Wie gelingt euch das in der Erinnerungspraxis?

Schendina: Ich selbst muss mich emotional angesprochen fühlen, möchte Selbstwirksamkeit und Wertschätzung spüren, ich möchte gefördert und gefordert, aber nicht überfordert werden. Um das mit unserer Bildungsarbeit zu bieten, möchten wir die persönlichen Geschichten der Zeitzeug:innen allen Menschen zugänglich machen. Vermitteln, wie wichtig es ist, sich zu engagieren und sie mit Blick auf ihre Bedarfe und Möglichkeiten ermutigen und befähigen, aktiv zu werden, Verantwortung zu übernehmen und in einem geschützten Raum frei zu gestalten. Für junge Menschen mit Deutsch als Zweitsprache, und mit Seh- und Höreinschränkungen bieten wir Material in leichter Sprache, lassen nach und nach Videos in deutscher Gebärdensprache erstellen. Um unsere Angebot gezielt jungen Menschen anzubieten, die weniger Zugangsmöglichkeiten in ihrem Alltag haben, arbeiten wir mit Förderschulen für seh- und hörbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche und mit Schulen in sogenannten Brennpunktbezirken. Wir wollen ZWEITZEUGEN-Bildung für alle ermöglichen, auch unabhängig von Workshops mit uns. Deshalb haben wir unsere digitale Lernplattform ›Werde Zweitzeug:in‹ entwickelt, auf der junge Menschen durch Digital Storytellings von Überlebensgeschichten zu Zweitzeug:innen werden können. Diese ist kostenlos, frei zugänglich und kann von Lehrkräften ganz einfach in ihren Unterricht eingebunden werden.

Lehrer-News: Eine persönliche Erinnerung von Menschen, die (Über)Lebensgeschichte zu hören und weiterzugeben, ist bestimmt sehr berührend. Wie begegnet ihr diesen Menschen?

Schendina: Bei jedem der 37 von uns geführten Interviews spürten wir Herzlichkeit, Dankbarkeit und den Wunsch, die Taten der Nationalsozialist:innen niemals zu vergessen. Jede einzelne Begegnung war besonders und berührend. Häufig haben uns die Zeitzeug:innen in ihr Zuhause eingeladen und uns mit Leckereien versorgt. Es war also immer eine sehr intime und tatsächlich auch schnell eine sehr vertraute Situation. Wir sprechen dann meist stundenlang über ihr ganzes Leben – vor und nach dem Holocaust. Das ist wichtig. Denn auch den Kindern und Jugendlichen wollen wir von den Menschen erzählen vom ganzen Leben. Aus diesen Begegnungen sind schon tiefe Freundschaften entstanden und wenn die Zeitzeug*innen selbst verstorben sind, versuchen wir, den Kontakt zu ihren Familien aufrechtzuerhalten.

Lehrer-News: Auf eurer Website ist zulesen  das Kinder und Jugendliche „Zugang zu dem abstrakten Thema Holocaust” erhalten sollen. Wie begegnet ihr Kindern und Jugendlichen, die sich mit dem Holocoust noch nicht beschäftigt haben?

Schendina: Oft stehen die Themen Holocaust und Nationalsozialismus in Verbindung mit großen Zahlen, vielen verschiedenen Ortsnamen, Namen und Entscheidungen von Politiker:innen oder es werden Fotos von Bergen an Kleidung oder Brillen gezeigt. Wir möchten von diesen abstrakten Darstellungen hin zum Konkreten. Wir erzählen von Rolf, der gerne Fußball spielte und es dann plötzlich nicht mehr durfte, von Frieda, deren ganzen Einsen in der Schule einfach auf einmal zu Sechsen wurden, von Henny, die später mal das Kino von ihrem Vater übernehmen wollte, der es dann jedoch abgeben musste, um ihr Leben zu retten. Und von Elisheva, die sich verliebte, doch ihren Freund nie wieder sah – die jeweils ersten sind Themen, die Kinder und Jugendliche kennen, bei denen sie die Möglichkeit bekommen, mitzufühlen und dann die Ungerechtigkeit der Veränderungen erkennen und diese klar zum Ausdruck bringen. So möchten wir die Kinder und Jugendlichen in ihrer Lebenswelt abholen und ihnen einen Zugang zum sehr abstrakten Thema Holocaust bieten. Außerdem fragen wir in den Workshops danach, was die Teilnehmenden bereits wissen. Meistens sind die Antworten überraschend und die Teilnehmer:innen wissen viel mehr über das Thema, als wir denken – oder haben zumindest schon von Begriffen und Daten gehört, die sie jedoch nicht einordnen können. Das im Workshop mit einzubeziehen, ist ein wichtiger Bestandteil. Die (Über)Lebensgeschichten ermöglichen Identifikation-Momente und können Anlass zu Mitgefühl sein. 

Lehrer-News: Wo setzt ihr als Team in der Vermittlung eure Schwerpunkte?

Schendina: Wir arbeiten mit verschiedenen Methoden, wie z.B. “Ein ganz normaler Tag” vom Anne Frank Zentrum. Bei dieser Methode lernen die Kinder und Jugendlichen anhand ihrer eigenen Alltagsaktivitäten verstehen, wie unzählige antijüdische Gesetze zwischen 1933-1945 das Leben von als Juden:Jüdinnen Verfolgten sukzessive massiv eingeschränkt haben – häufig erkennen wir bereits hier, wie ungerecht sie das finden. Wir entscheiden jedes Mal bewusst, welche Geschichte wir in welcher Klasse erzählen. In jüngeren Stufen erzählen wir beispielsweise Überlebensgeschichten von Zeitzeug:innen, die viel über ihre eigene Kindheit erzählt haben und so einen Zugang bieten. Überlebensgeschichten, in denen es um die erste große Liebe geht, erzählen wir in älteren Klassen, in denen das Thema vielleicht auch gerade eine große Rolle spielt. Ein dritter Punkt, bei dem wir die Kinder und Jugendlichen in ihrer Lebenswelt abholen, ist der Einsatz von digitalen Elementen. Das ist durch die Corona-Krise auch bei uns im Verein stark gefördert worden und schon jetzt nicht mehr aus unseren Workshops wegzudenken. Seien es einfache Umfragen bis hin zum Einsatz unserer Digital Storytellings. Und unsere erste Evaluation zeigt: Der Einsatz des Digitalen begeistert die Kinder und Jugendlichen sehr stark!

Lehrer-News: Wie führt ihr die Workshops durch und was macht gerade diese Form der Vermittlung besonders für Lehrkräfte so interessant?

Schendina: Zu Beginn sammeln und ordnen wir erst einmal das Vorwissen der Teilnehmenden, anschließend wird die eben erwähnte Methode ›Ein ganz normaler Tag‹ durchgeführt. Danach kommt dann das Herzstück eines jeden Workshops: Das Kennenlernen einer Überlebensgeschichte, die von der Workshopleiter:in erzählt wird. Je nach Format lernen die Teilnehmenden weitere Überlebensgeschichten kennen (entweder analog durch unsere didaktischen Hefte oder digital durch die Storytellings). Im Anschluss haben alle Teilnehmenden die Möglichkeit, einen Brief an den:die Überlebende:n oder die Familien zu schreiben, bevor der Workshop mit einer Methode zum Transfer bzw. Übertrag ins Heute beendet wird. Manche Gruppen malen auch Bilder, gestalten Plakate oder sogar ganze Ausstellungen. Es sind auch schon Podcast-Episoden entstanden, Gedenkveranstaltungen geplant und kurze Filme gedreht worden. Die jungen Menschen sind oft so kreativ und haben wunderbare Ideen ihre eigene Erinnerungskultur zu gestalten. Grundsätzlich ist es für uns ein Vorteil in den Klassen, dass wir von außen kommen und eben nicht die Lehrkräfte sind, die die Schüler:innen immer sehen. Es ist mal was anderes als der klassische Unterricht und deswegen auch von Vorteil für die Lehrkräfte. Aber: Um unsere Vision, dass alle Kinder und Jugendlichen Zweitzeug:innen werden, zu erreichen, sind wir auf die Lehrkräfte angewiesen. Wir schaffen es nicht ohne sie. Deshalb haben wir auch unser neues Blended Learning-Workshop Format ZWEITZEUGEN+ entwickelt: damit können Lehrkräfte einen aktiven Teil der ZWEITZEUGEN-Bildung in Form einer von uns bereitgestellten digitalen Vor- und Nachbereitung übernehmen. Das ist ein erster Schritt, um sie selbst zu Multiplikator:innen unserer Arbeit zu machen.

Lehrer-News: Was müsste sich an Schulen zum Thema Erinnerungskultur verändern? Hast du was das betrifft bestimmte Ideen oder Wünsche?

Schendina: Erinnerungskultur an Schulen muss aktiver gestaltet werden. Es geht nicht nur darum, Zahlen und Fakten aus Geschichtsbüchern zu lernen, sondern über einen persönlichen Zugang das eigene Erinnern an den Holocaust zu gestalten. Kinder und Jugendliche sollten ihre eigene Form der Erinnerungskultur finden. Dafür gibt es, wie schon gesagt, ganz beeindruckende Beispiele, die in oder nach einem Workshop mit uns entstanden sind: Ein Berufskolleg hat eine eigene Online-Ausstellung über mehrere Überlebensgeschichten gemacht. Eine Grundschule hat ein Stop-Motion Video über eine Überlebensgeschichte erstellt. Eine Gesamtschule hat einen Podcast über Zweitzeug:innenschaft aufgezeichnet.

Lehrer-News: In Bezug auf die Digitalisierung ist eure Website eine gute Anlaufstelle, um sich mit dem Thema Erinnerungskultur in der Praxis zu beschäftigen. Gibt es bald noch mehr Projekte, auf die ihr euch in der Zukunft schon freut?

Schendina: Woran es bei uns im Verein niemals mangelt, sind kreative, großartige Ideen und Visionen. Doch manchmal müssen wir uns selbst bremsen und kleine Schritte machen – vor allem erst einmal die bestehenden Angebote testen, evaluieren und alles miteinander verknüpfen. In unserer digitalen Bildungsarbeit freuen wir uns schon darauf, Ende 2022 eine vierte Überlebensgeschichte zu veröffentlichen: von der Zeitzeugin Erna de Vries – für 16-18 Jährige. Im Frühjahr 2023 planen wir die Veröffentlichung einer zweiten Staffel unseres Podcasts ›Geschichten, die bleiben‹. Im Analogen freuen wir uns schon auf unsere neue Ausstellung für Kinder und Jugendliche ab 12 Jahren, die wir ab Januar 2023 zeigen werden. Für alle weiteren Neuigkeiten lohnt es sich für Lehrkräfte und Multiplikator:innen der Bildungsarbeit unseren gezielt für sie konzipierten Newsletter zu abonnieren und uns auf Instagram zu folgen!

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