Drei Sprachen, drei Bildungssysteme: Ein Einblick in die Schulvielfalt Belgiens

Von
Jessica Risi
|
19
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December 2023
|
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Die Sprachgemeinschaften des Königreichs bieten eine große Auswahl an Bildungswegen (Quelle: Pixabay)

Das belgische Bildungssystem ist auf den ersten Blick ziemlich komplex. Denn: Belgien ist seit 1970 in drei Sprachgemeinschaften aufgeteilt. Die flämische, französische und deutschsprachige Gemeinschaft. Diese Regionen unterscheiden sich nicht nur durch ihre Sprache, sondern verfügen auch jeweils über eigene Parlamente und sind eigenständig für verschiedene gesellschaftliche Bereiche verantwortlich. Neben kulturellen Angelegenheiten und dem Gesundheitswesen können sie auch ihre jeweiligen Bildungssysteme selbst gestalten. Trotzdem sind die drei Schulsysteme mit wenigen Ausnahmen ähnlich aufgebaut und zeichnen sich vor allem durch frühkindliche Förderung und berufsvorbereitende Unterrichtsfächer aus. Trotz dieser vielversprechenden Ansätze verzeichnet auch Belgien in den letzten Jahren schlechtere PISA-Ergebnisse. In unserer Serie Bildungssysteme der Welt werfen wir nun nach Ländern wie Japan, den USA und Polen einen genaueren Blick auf Belgiens Schulen.

Die Qual der Wahl: Ganztagsschulen und Homeschooling

In ganz Belgien gilt die Schul- bzw. Lernpflicht für Kinder von 5 bis 18 Jahren. Alle Kinder können ab einem Alter von zweieinhalb Jahren den Kindergarten bzw. die Vorschule besuchen. Bereits hier wird das Augenmerk auf Förderung und Bildung gelegt, weniger auf eine reine Kinderbetreuung. Spielerisch werden bereits Grundsteine für Lesen und Schreiben gelegt. Da Belgien drei Amtssprachen hat, lernen die Kinder auch früh Niederländisch oder Französisch. Ein Großteil der belgischen Kinder besucht die Vorschule, unter anderem weil diese komplett kostenlos ist. Vor- und Grundschule arbeiten eng zusammen und stehen in regelmäßigem Kontakt, um den Kindern eine persönliche Förderung zu ermöglichen, die ihre Stärken und Schwächen berücksichtigt.

Die Grundschule beginnt dann im Alter von fünf Jahren. Anders als an den meisten deutschen Schulen dauert die Grundschulzeit hier sechs Jahre. Die Schulen erhoffen sich dabei eine bessere Anpassung an die Fähigkeiten und Kenntnisse der unterschiedlichen Schüler:innen. Am Ende der Grundschule erhalten sie bereits ein spezielles Zertifikat, auf französisch Certificat d’Etudes de Base (CEB) genannt, das benötigt wird, um in die Sekundarstufe zu kommen. Dort haben die Schüler:innen dann eine große Auswahl an Bildungswegen, die sie einschlagen können. Diese bereiten sie entweder gezielt auf einen Beruf oder auf den Hochschulweg vor. 

In der Regel sind belgische Schulen Ganztagsschulen, deren Unterrichtszeit üblicherweise von 8:00 Uhr morgens bis 16:00 Uhr nachmittags reicht. Die meisten Schüler:innen nehmen am Mittagessen in der schuleigenen Mensa teil. Danach bieten viele Schulen nachmittags Betreuungsangebote an, die Hausaufgabenhilfe oder Freizeitaktivitäten für jüngere Kinder umfassen. Die Auswahl an Schulen und Kindergärten ist groß. Es gibt staatliche, private und subventionierte öffentliche Schulen. Ebenso gibt es zahlreiche katholische und jüdische Schulen. Viele davon sind darauf ausgerichtet, von der Grundschule bis zum Abschluss besucht zu werden. 

Noch eine Besonderheit: Laut belgischer Verfassung ist das Unterrichtswesen frei, das heißt, es gibt keine Schulpflicht im eigentlichen Sinne, lediglich eine Lernpflicht. Eltern müssen nachweisen, dass ihre Kinder Zugang zu Bildung haben, sei es durch den Besuch einer Schule oder durch Homeschooling. Bis zum Jahr 2023 wurden in der flämischen Gemeinschaft über 2.500 Kinder und Jugendliche zu Hause unterrichtet – das ist doppelt so viel wie noch 2017. Erst kürzlich wurde das Schulpflichtalter von sechs auf fünf Jahre herabgesetzt. Daher präferieren besonders Eltern von jüngeren Kindern Homeschooling gegenüber der Grundschule, um mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen zu können. Auch Eltern von beispielsweise autistischen Kindern bevorzugen oft den Unterricht von zuhause. Allerdings wird das Homeschooling streng kontrolliert, um sicherzustellen, dass die Lernbedingungen vergleichbar mit denen in der Schule sind. Eine Schulinspektion kontrolliert regelmäßig die Haushalte, in denen Kinder von zuhause aus unterrichtet werden.

Die Sekundarstufe: Belgiens weiterführende Schulen

Unterschiede in den Schulsystemen finden sich spätestens in der Sekundarstufe. Diese beginnt für Kinder nach der Grundschule mit 12 Jahren. In den meisten Fällen besuchen sie diese Stufe, bis sie 18 Jahre sind. Sie ist unterteilt in drei Schulstufen à zwei Jahre. In der ersten Schulstufe haben alle Schüler:innen den gleichen Lehrplan. Interessant wird es, sobald Kinder in die zweite Schulstufe kommen, also mit ca. 14 Jahren. Dann können sie nach ihren Interessen und Zukunftswünschen zwischen verschiedenen Unterrichtstypen wählen. Diese besuchen sie dann bis zum Abschluss. Allerdings gibt es in Belgien auch die Möglichkeit, ähnlich wie in Deutschland, eine Berufsausbildung zu machen. Dies ist ab 15 Jahren möglich. Dann verlassen sie den Vollzeitunterricht und beginnen einen Teilzeitunterricht in einer Berufsschule. Nebenbei wird in einem Betrieb gearbeitet.

In der flämischen Gemeinschaft wird ab der zweiten Schulstufe folgender Unterricht angeboten:

  1. Der allgemeine Sekundarunterricht (ASO)

Dieser Unterricht bereitet die Schüler:innen für das Studieren vor und fokussiert sich auf eine allgemeine Wissensvermittlung.

  1. Der technische Sekundarunterricht (TSO)

Beim technischen Unterricht liegt der Fokus mehr auf dem Vermitteln bestimmter Fähigkeiten für einen Beruf, aber es werden trotzdem allgemeine Fächer unterrichtet, um auf eine Weiterbildung in Form eines Studiums vorzubereiten.

  1. Der kunstbildende Sekundarunterricht (KSO)

Dieser Weg hat viele Ähnlichkeiten mit dem TSO, mit dem Unterschied, dass künstlerische Fähigkeiten vermittelt werden. Später haben Schüler:innen die Möglichkeit, in diesen Bereichen zu studieren.

  1. Der berufliche Sekundarunterricht (BSO)

Dieser Weg ist für Schüler:innen, die kein Studium anstreben und den Hauptfokus auf das Erlernen eines Berufs legen wollen. Das Erlernen praktischer Fähigkeiten und Praktika nehmen mehr als die Hälfte des Lernplans ein. Die Auswahl an Berufen, auf die hier fokussiert werden kann, ist sehr vielfältig. Darunter zählen beispielsweise Berufe in der Pflege, im Verkauf oder handwerkliche Berufe. Eine komplette Auswahl aller berufsspezifischen Fächer könnt ihr hier nachlesen.

Auch in der französischen Gemeinschaft können Schüler:innen ab der zweiten Stufe zwischen vier Bildungswegen wählen: dem allgemeinen, dem technischen, dem künstlerischen und dem berufsbildenden Weg. Diese vermitteln ähnliche Lerninhalte wie in der flämischen Gemeinschaft. Der allgemeine Weg bereitet in erster Linie auf ein Studium vor, wohingegen der berufsbildende Weg auf ein direkteres Einsteigen in den Berufsmarkt ausgelegt ist.

Die deutschsprachige Gemeinschaft, mit Abstand die kleinste der drei, hat ein ähnliches Sekundarsstufensystem wie die Nachbarn. Ab der zweiten Stufe stehen aber, anders als im flämischen und französischen System, nur drei verschiedene Unterrichtsformen zur Wahl: der allgemeinbildende Unterricht, der technische Unterricht und der berufsbildende Unterricht. Auch hier wird entweder auf einen Beruf oder auf das Studium vorbereitet. Interessanterweise gibt es lediglich eine Hochschule in der deutschsprachigen Gemeinschaft, an der nur drei Studiengänge angeboten werden. Das heißt, die meisten Schüler:innen ziehen zum Studieren in die anderen Gemeinschaften oder ins Ausland.

In allen Gemeinschaften erhalten die Schüler:innen am Ende der dritten Schulstufe ein offizielles Abschlusszeugnis. In den allgemeinbildenden, den künstlerischen und den technischen Unterrichtsarten berechtigt dies dann zum Studium an Hochschulen und Universitäten. Im berufsbildenden Weg berechtigt das Zeugnis nur zur Berufsausbildung. Es besteht jedoch die Möglichkeit, ein zusätzliches Jahr in der Sekundarstufe zu verbringen und somit nach insgesamt sieben Jahren die Studienberechtigung zu erlangen.

Pisa-Schock auch in Belgien

Trotz der vielfältigen Bildungsmöglichkeiten und der frühen Förderung im belgischen Schulsystem bleiben schlechtere PISA-Ergebnisse nicht aus. Insbesondere in den Bereichen Lesen und Mathematik erzielten die belgischen Schüler:innen dieses Mal niedrigere Ergebnisse als die Jahre zuvor. Obwohl die Corona-Pandemie ein möglicher Grund zu sein scheint, fielen die Zahlen bereits vorher. Dennoch lagen die Ergebnisse in allen drei Kategorien immer noch über dem OECD-Durchschnitt. Im Vergleich zu Deutschland hat Belgien einen höheren Score in Mathematik und vergleichbare Werte im Lesen sowie in den Naturwissenschaften. 

Die Zahlen für Pisa wurden auch separat für die drei Gemeinschaften berechnet. In allen drei sind die Punktzahlen in sämtlichen Kategorien niedriger als zuvor. Insbesondere in der flämischen Gemeinschaft waren die Ergebnisse schlechter als bisher, mit einem Rückgang von 19 Punkten in Lesekompetenzen. Dennoch bleibt die flämische Gemeinschaft Spitzenreiter im Vergleich zu ihren zwei Nachbarn.

Erst kürzlich wurden in der flämischen Gemeinschaft neue Bildungsreformen vorgestellt, darunter standardisierte Tests für Primar- und Sekundarstufen in den Fächern Mathematik und Niederländisch, um ein besseres Verständnis für das Bildungsniveau der Schüler:innen zu erhalten. Zudem erfolgte eine Anpassung der Finanzierung. Allerdings räumt der flämische Bildungsminister Ben Weyts ein, dass die Reformen zu spät gekommen seien. Politiker:innen der Opposition kritisieren den Umgang der flämischen Regierung mit den Zahlen und werfen ihr vor, keine klaren Strategien oder Ideen für eine Verbesserung des Bildungssystems zu haben.

Auch die anderen Gemeinschaften bemühen sich um neue Ideen, um ihren Schüler:innen die beste Ausbildung und Betreuung zukommen zu lassen. Die französische Gemeinschaft führte beispielsweise 2022 einen neuen Schulkalender ein. Nun gibt es immer abwechselnd sieben Wochen Unterricht und zwei Wochen Ferien. Dadurch sind die Sommerferien zwei Wochen kürzer, jedoch haben die Schüler:innen dafür im Herbst und zu Fasching jeweils zwei Wochen frei. Dieser Rhythmus soll laut französischer Gemeinschaft besser auf die Bedürfnisse der Kinder zugeschnitten sein.

Was haltet ihr von den Möglichkeiten der belgischen Bildungssysteme? Würdet ihr eine verstärkte Ausrichtung auf Berufsorientierung bereits in den Oberstufen gut finden? Teilt uns eure Meinungen in den Kommentaren mit!

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