Der Begriff der Bildung ist in aller Munde und normalerweise positiv besetzt. Ein gewisser Grad an Bildung gilt als unerlässlich, um in der Leistungsgesellschaft bestehen und einen halbwegs selbstbestimmten Lebensweg beschreiten zu können. Doch was ist eigentlich gemeint, wenn von Bildung die Rede ist? Ein Überblick über drei verschiedene Bildungskonzepte.
Bildung an sich und damit den Gegenstand der Bildungstheorie(n) begrifflich zu definieren, ist eine gewagte Unternehmung, wie der Pädagoge Erich Weber 1999 bemerkte:
„Die Bedeutungsvielfalt des Bildungsbegriffs reicht von der weitesten Fassung, wonach ‚alles Leben bildet‘, bis zur engsten Auffassung von geistiger Bildung als lernende Auseinandersetzung mit überlieferten Kulturgütern […]. Die terminologische Verwirrung nimmt noch zu, wenn die allgemeine Menschenbildung von der speziellen (beruflichen) Ausbildung unterschieden wird.”
Die Inhalte, Ziele und Methoden der Vermittlung von „Bildung“ sind darüber hinaus dem Wandel gesellschaftlicher Verhältnisse unterlegen. Die folgende Auswahl stellt drei bedeutende Bildungstheoretiker aus dem 18./19. und 20. Jahrhundert vor und soll Interesse für die weitere Lektüre ihrer Werke wecken.
Trotz der Pluralität des Bildungsbegriffs besteht relative Einigkeit darüber, dass Wilhelm von Humboldt ein wichtiger Referenzpunkt für bildungstheoretische Diskussionen seit dem frühen 19. Jahrhundert war und ist. Humboldt, der wichtigste Protagonist des Neuhumanismus, definiert Bildung wie folgt:
„[A]lles, was Menschen Wert gibt, umfassenden Zweck […]; höchste Mannigfaltigkeit in der Ausbildung, Sinn für Gabe und Genuß […], und dann Kraft genug, die höchste Mannigfaltigkeit aufs höchste zu vereinfachen, das Viele immer auf das Eine zu beziehen, in jedem einzelnen immer Seiten zu finden, wo es mit allem zusammenschmilzt“.
Schon Humboldt begriff Bildung also als etwas umfassendes. Charakteristisch für die Neuhumanisten ist ihr Bestreben, die den Menschen innewohnenden Potentiale und Talente in jedweder denkbaren Form zu erwecken und zu fördern. Dieser Prozess kann sich, im Bemühen der menschlichen Individualität entsprechen zu wollen, nicht entlang eines für alle gleichermaßen geltenden, extern vordefinierten Ideals vom gebildeten oder zu bildenden Subjekt vollziehen. Stattdessen ist Selbstbildung eine notwendige Bedingung zur Erreichung dieses Ziels. Eine Selbstbildung, die das Individuum jedoch nicht im luftleeren Raum, sondern in einer Wechselbeziehung mit der Außenwelt zu leisten hat: „In dem Tätigsein seiner Vermögen ändert der Mensch die Welt, und als neues Objekt der Vermögen wirkt die veränderte Welt auf den Menschen zurück“. Durch Humboldts Gedanken schimmert schließlich der Geist der Aufklärung: Bildung heißt nach seinem Verständnis nicht, die Menschen von oben herab zu etwas zu erziehen, sondern ist die Folge freier Entscheidung und selbstbestimmten Handelns freier Individuen.
Die weiteren Diskussionen zum Wesenskern der Bildung befassten sich im 18. und 19. Jahrhundert allerdings stärker mit der Frage, wie eine gegenwartsorientierte Bildung auszusehen habe. Die Neuhumanisten wiesen eine starke Affinität zu antiken Bildungsidealen auf, samt einem starken Fokus auf die lateinische und altgriechische Sprache. Überhaupt erscheint Humboldts Vorstellung, die mannigfaltigen Kräfte der Individuen durch Bildung, beziehungsweise die Möglichkeit zur Selbstbildung, zu mobilisieren, nur sehr bedingt mit den praktischen Erfordernissen der Moderne vereinbar. Dementsprechend fand der Individualismus des wohl bekanntesten Bildungstheoretikers im 19. Jahrhundert wenige Anhänger.
Einen im Lichte der Industrialisierung und Herausbildung der Nationalstaaten stärker realitätsbezogenen Ansatz findet sich in Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770-1831) Bildungstheorie. Das Individuum soll in einem Bildungsprozess animiert werden, sich Wissen über die Welt anzueignen. Erst dadurch ist es befähigt sein Handeln als ein von Eigeninteresse geleiteter homo oeconomicus, aber auch als homo politicus mit staatsbürgerlichem Bewusstsein für das Gemeinwesen, schrittweise zu reflektieren. Erst indem das Individuum sich qua Aneignung von Wissen zu Reflexionen über die Widersprüchlichkeit seiner eigenen Rolle – einerseits als von Eigeninteressen geleiteter bourgeois in der ökonomischen Sphäre, andererseits als citoyen – befähigt wird, wird es in die Lage versetzt, kritische Urteile zu fällen. Die durch Bildung zu erreichende Urteilsfähigkeit animiert schließlich dazu, auch die eigene Identität in der kritischen Auseinandersetzung mit der Außenwelt erst zu hinterfragen und schließlich neu zu bilden. Diese Neubildung der eigenen Identität findet im Bildungsprozess statt, in dem das Wissen über die Welt und die eigene Rolle in ihr fortwährend reflektiert, überprüft und erweitert wird. Dazu schreibt der Erziehungswissenschaftler Georg Zenkert: „Indem [das Individuum] in der Sphäre der Gesellschaft seine privaten Präferenzen verfolgt, findet es im Staat als dem Gemeinwesen seine Identität, die Garantie für rechtliche Verhältnisse und die Bedingungen der Kooperation mit anderen.”
Anders als bei Humboldt ist die Grundlage von Bildung hier nicht die Individualität des Einzelnen und ihr Ergebnis nicht die möglichst umfängliche Entfaltung seiner individuellen Potentiale. Stattdessen geht es Hegel um die Emanzipation des Individuums von einer ich-bezogenen Identität mittels Bildung und um seine Eingliederung in die politische und ökonomische Sphäre. Das bedeutet aber keineswegs, dass das hegelsche Bildungskonzept anti-individualistisch ausgerichtet wäre: Erst der gebildete Mensch ist befähigt, ihm auferlegte Konventionen, Regeln und Verhältnisse zu verstehen und zu kritisieren, weil er in der Lage ist, seine eigene Existenz im Kontext einer sein Denken und Handeln prägenden Umwelt, zu verstehen.
Die beiden beleuchteten Bildungstheorien Humboldts und Hegels beinhalten verschiedene positive Aspekte von Bildung: Die Selbstwerdung des Individuums, die Entfaltung seiner Fähigkeiten, Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung. Mit dem Sprung ins 20. Jahrhundert und zu Heinz-Joachim Heydorn (1916-1974) wird Bildung auch als soziales Gut verstanden, als Fähigkeit der (politischen) Mitbestimmung und als Fähigkeit, solidarisch zu denken und zu handeln. Bereits bei Hegel findet der Bildungsprozess des Menschen ausdrücklich in einem gesellschaftlichen Kontext statt. Wie der deutsche Idealist Hegel ist Heydorn ein Kind seiner Zeit, in seinem Fall der jungen Bundesrepublik. 1946 ist er Mitbegründer und erster Bundesvorsitzender des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS). Er war früh darauf bedacht, die politischen Kräfteverhältnisse in Westdeutschland zu ändern. Es ist demnach nur konsequent, dass Heydorn diesem Anspruch und dem Wunsch nach Veränderung während seiner wissenschaftlichen Karriere ab den 1950er Jahren treu blieb.
Wie der Terminus nahelegt, ist es Anspruch der Kritischen Bildungstheorie, die zeitgenössischen und historischen Bildungsideale einer gründlichen Kritik zu unterziehen. Das zentrale Ergebnis dessen lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: „Bildung ist ein ebenso mächtiges Instrument der Veränderung, wie sie Instrument der Stabilisierung ist“. Das erscheint paradox, wird doch dem gleichen Gegenstand, der Bildung, eine diametrale Wirkung zugesprochen. Sie wird beschrieben als potentielles Mittel der Konservierung des Bestehenden, gleichzeitig aber der Veränderung. Die Feststellung Bildung sei ein potentielles Instrument zur Stabilisierung eines bestehenden Herrschaftssystems, impliziert bereits den Zusammenhang zwischen Bildung und Herrschaftsverhältnissen. In einer seiner zentralen Schriften, „Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft“, beschreibt Heydorn den Wandel der Formen und Funktionen von Bildung in verschiedenen Gesellschaftsformen. In der bürgerlich-kapitalistischen Phase der Menschheitsgeschichte erhält Bildung schließlich eine institutionalisierte Form und Reproduktionsfunktion. Heydorn sieht im Bildungssystem seiner Zeit ein enormes emanzipatorisches Potential. Die Bildung, nicht nur kleiner Teile der Bevölkerung, sondern aller in Form der allgemeinen Schulpflicht, bietet die Grundlage, die Unmündigkeit der Massen zu überwinden. Sie bietet Pädagog:innen außerdem Räume kritischen Denkens. Anstatt eines, die Sozial- und Klassenstruktur der alten BRD reproduzierenden, dreigliedrigen Schulsystems, plädierte Heydorn für eine integrative Gesamtschule.
Bildung kann aus verschiedenen Perspektiven theoretisch gedacht werden. Sie war Thema der antiken Philosophie, von mittelalterlichen Theologen, der Aufklärung und der Moderne. Auch Humboldts, Hegels oder Heydorns Werk kann nicht isoliert von der begriffsgeschichtlichen Entwicklung von Bildung und der Weiterentwicklung von Bildungstheorien gedacht werden. Sind bei Humboldt antike Bezüge prägend (Aristoteles), so ist es in Hegels Bildungskonzept Rousseau mit seiner Unterscheidung zwischen dem Menschen als ökonomisch denkenden Bürger/Bourgeois und Citoyen als politischem Wesen. Heydorns Bildungstheorie fußt letztlich auf einer Analyse der Herrschaftsverhältnisse mehrerer Jahrtausende, von der antiken Welt bis zur modernen bürgerlichen Gesellschaft. Die historischen Bezüge der Bildungstheorie führen vor Augen, dass bildungstheoretisches Denken auch in Zukunft unverzichtbar sein wird.
Mehr zu Bildungstheorie findet ihr im Rahmen unserer Themenwoche Didaktik in diesem Artikel. Was denkt ihr, welche Bildungstheoretiker:innen sind für unsere Zeit besonders inspirierend und warum? Wie sollte Bildung heutzutage gedacht werden? Hinterlasst gerne einen Kommentar!