Gewalt und Konflikte sind in unserer Welt allgegenwärtig. Auch der Schulalltag bleibt davon nicht verschont. Gewalt in Bildungsstätten hat in den vergangenen Jahren sogar zugenommen. Allein im Jahr 2019, so eine Studie der Bertelsmann-Stiftung, fühlten sich ein Viertel der Schüler:innen nicht sicher in der Schule. 60 Prozent der Kinder und Jugendlichen mussten mit Ausgrenzung, Hänseleien und Gewalt umgehen. Für Lehrkräfte kann das je nach Situation der Hilfsangebote an der Schule im schlimmsten Fall zur Überforderung führen . Was also tun? Wie es zu Gewaltsituationen kommt und wie Lehrkräfte und Schulen erfolgreich vorbeugen können, hat die Lehrer-News Redaktion Kathrin Gomolzig von der Aktion Kinder- und Jugendschutz in Schleswig-Holstein (AKJS) gefragt. Gomolzig ist Expertin auf den Gebieten der Gewaltprävention, Mobbingprävention und seelischen Entwicklung und seit 1992 als Bildungsreferentin für die AKJS tätig.
Lehrer-News: Eine Frage gleich zu Beginn, die viele unserer Leser:innen umtreiben dürfte: Was sind die wesentlichen Ursachen für Gewalt an Schulen?
Gomolzig: Das ist ähnlich wie bei den Hauptursachen von Gewalt und nicht speziell auf Schulen zu beziehen. Gewalt hat das Bedürfnis von Menschen nach Macht, Kontrolle, bei Jugendlichen oft auch Anerkennung in der Gleichaltrigengruppe als Ursache. Gewalt wird von vielen als einfache Form der Konfliktlösung erlebt. In der Schule haben wir es mit Heranwachsenden zu tun, die oft noch keine Impulskontrolle haben und erst lernen müssen, mit ihren Impulsen umzugehen. Besonders körperliche Gewalt kommt häufiger im jüngeren Alter vor. Die Gründe sind manchmal tatsächlich Konflikte, die im Hintergrund stehen, aber manchmal ist es auch das Bedürfnis, Macht und Kontrolle über jemanden zu haben oder sich Anerkennung zu verschaffen – gerade wenn es um Mobbing geht.
Lehrer-News: Sie haben in einem früheren Interview erwähnt, dass gewaltfreie Konfliktlösung Kindern vorgelebt werden müsste. Wie können Lehrer:innen da zusammen oder anstelle von Eltern agieren? Wie können Lehrer:innen aktiv an Eltern appellieren?
Gomolzig: Vor allen Dingen Vorbild sein. Selbst gewaltfrei Konflikte lösen. Das heißt: Konfliktpartner:innenn zuhören, eigene Gefühle und Beweggründe verständlich machen und kommunizieren; die Gegenseite verstehen, sich und anderen Fehler zugestehen. Das, denke ich, ist die Grundhaltung, wie man gut mit Konflikten umgehen kann. Was sicherlich kontraproduktiv wäre, sind Appelle. Appelle führen oft zum Widerspruch oder zur Rechtfertigung. Man fühlt sich nicht gehört, sondern, dass jemand aus einer Machtposition heraus etwas sagt. Eltern, die vielleicht auch andere Wertvorstellungen haben, könnte man so begegnen, dass man erkennt, dass es unterschiedliche Wertvorstellungen gibt, ohne es gleich zu bewerten. Dabei bleibt es wichtig, den eigenen Werterahmen zu vertreten. In diesem Fall den Werterahmen der Schule, welcher beispielsweise "Wir gehen gewaltfrei miteinander um, wir verhalten uns respektvoll und wir lösen Konflikte gewaltfrei" sein könnte. Wenn das Kind dagegen verstößt, dann gibt es in der Schule Regeln und Konsequenzen, die durchgeführt werden. Dazu können auch pädagogische Maßnahmen wie Peer-Mediation oder Tatausgleich zählen. Die Eltern haben möglicherweise andere Werte, aber man sollte vermitteln, dass die Schule auch ihre Werte hat und die Lehrkraft diese vertritt. Das halte ich für einen mehr zielführenden Umgang, als an Moral und Einsicht zu appellieren.
Lehrer-News: Sie sagten, dass das Bedürfnis nach Macht ein Grund für Gewalt ist. Kann die Vorbildfunktion von Lehrkräften und souveränes Verhalten diesem Machtbedürfnis entgegenwirken?
Gomolzig: Ja, genau. Vorbildfunktion ist das eine und das andere ist der von den Lehrkräften vertretene Werterahmen. Es muss aber diesen Werterahmen an der Schule auch erst mal geben. Die Schule sollte nicht davon ausgehen, dass ein gewaltfreier Umgang für jede und jeden selbstverständlich ist. Die Schulen sollten ganz klar definieren, was es gerade in Bezug auf ihre Einrichtung für wichtige Dinge gibt, die in diesem Werterahmen enthalten sein sollen, über die auch regelmäßig mit allen Beteiligten ins Gespräch gekommen wird, um ihn ggf. zu verändern. Denn Lebenslagen verändern sich, gerade die von Kindern und Jugendlichen. Digitale Räume kommen hinzu, welche möglicherweise eigene Regeln brauchen, die es zu besprechen gilt. Sie kennen vielleicht aus Ihrer eigenen Schulzeit den Klassenrat, den es vermutlich nur bis zur vierten Klasse gab und der nicht mehr da war, als Sie auf eine weiterführende Schulen gegangen sind. Man ist davon ausgegangen, dass Sie das jetzt “erwachsen” miteinander lösen können, aber das ist nicht unbedingt so. Auch Erwachsene brauchen Räume und Möglichkeiten, um ihre Konflikte lösen zu können. Streitschlichter und Konfliktlotsen sind eine Möglichkeit, die sich auch an Grundschulen sehr etabliert haben und an den weiterführenden Schulen oft nicht mehr so gut funktionieren. Sie funktionieren deswegen nicht, weil Erwachsene als Vorbild Konflikte in der Regel auch nicht mediativ lösen. Nicht miteinander und auf gleicher Augenhöhe, sondern auch sie neigen dazu, sich jemanden zu suchen, der sagt, wer von beiden Recht hat. Eine Form von Konfliktlösung, die immer wieder in der Erwachsenenwelt bedeutet, dass man vor Gericht zieht, anstatt sich zusammenzusetzen, um miteinander den Konflikt zu lösen. Das bekommen Kinder und Jugendliche mit. Die Kompetenz, einen Streit auf Augenhöhe miteinander zu lösen und diese in die Schulstruktur zu integrieren, wäre eine Chance für Schulen.
Lehrer-News: Sie bieten auch Fortbildungs- und Meditationsangebote an. Welche Ansätze haben sich Ihrer Meinung nach bewährt?
Gomolzig: Ich halte solche Maßnahmen für zielführend, an der die Zielgruppe auch selbst beteiligt ist. Wir bieten zum Beispiel Fortbildungen im Bereich Peer-to-Peer-Mediation an, bei denen Lehrkräfte im Tandem mit Schulsozialarbeitern Konfliktlotsenprojekte an ihren Schulen einführen oder weiterführen. Das sind Ansätze, die an der Grundschule am besten funktionieren und dort auch gut angenommen werden. Das lebt und fällt natürlich mit der Kontinuität und der Frage,ob die Schule dies als Teil der Konfliktkultur wahrnimmt und entsprechende Ressourcen dafür zur Verfügung stellt. Zum Thema Gewaltprävention und Mobbingprävention ist es wichtig, mit Klassen regelmäßig darüber ins Gespräch zu kommen, wie der Umgang miteinander ist und was verbessert werden kann. Es ist auch präventiv wirksam, dafür zu sorgen, dass Klassen gute Gemeinschaftserlebnisse haben. Lehrkräfte können auch dafür sorgen, dass Kinder und Jugendliche Anerkennung durch pro-soziales Verhalten bekommen. Darüber hinaus sollte es Möglichkeiten geben, dass Schüler:innen sich Rat und Hilfe bei Vertrauenspersonen innerhalb der Schule holen können.
Lehrer-News: Inwiefern würden Sie sagen, haben digitale Medien einen Einfluss, zum Beispiel mit Blick auf Cybermobbing? Verstärken sie das Problem oder sind sie nur eine Ausdrucksform derselben Ursache?
Gomolzig: Ich würde sagen: beides. Konflikte können in der Kommunikation in den sozialen Medien schneller entstehen und auch hochgekocht werden. Unter anderem durch bestimmte Dinge, wozu die sozialen Medien auch einladen: das Kommentieren, Weiterposten, Teilen und so weiter. Das kann positiv genutzt werden, aber leider auch dazu, andere runterzumachen, sich über sie lustig zu machen usw. Das schürt Konflikte, die dann auch im analogen Raum der Schule weitergeführt werden. Umgekehrt ist es genauso: Gerade Mobbing ist ein Phänomen, das häufig in Schulklassen beginnt, also im analogen Raum, und dann selbstverständlich in den Medien fortgesetzt wird. Diese Möglichkeit gibt es spätestens ab der vierten oder fünften Klasse, wenn die Kinder über Smartphones verfügen. Dieses Medium zu nutzen, wenn sie Interesse daran haben, jemanden zu mobben, lassen sie dann nicht aus. Dies ist auch sehr effektiv, da man über soziale Medien Beleidigungen und Demütigungen sehr weit verbreiten kann. Hinzu kommt die Anonymität im digitalen Raum, die Hemmschwellen sinken lässt.
Lehrer-News: Wie bewerten Sie die aktuelle Lage an deutschen Schulen mit Blick auf die Gewaltprävention?
Gomolzig: Es ist natürlich immer Luft nach oben. Es ist auch sehr unterschiedlich, was ich von Schulen erfahre. Es gibt Schulen, die sind hier sehr gut aufgestellt und haben eine ganz klare Konfliktkultur, mit pädagogischen Hilfsangeboten und präsentem Personal; die Schulsozialarbeit ist bekannt, hat genug Stunden, ist teilweise sogar zu zweit und arbeitet eng mit Lehrkräften zusammen. Das sind die positiven Beispiele. Man kann leider nicht überall sagen, dass Schulen sich mit den Themen soziale Kompetenzen, Umgang mit Konflikten und Gewaltprävention bewusst und nachhaltig auseinandergesetzt haben. Manche machen das auch nicht transparent, so dass beispielsweise Eltern oft wenig darüber wissen, was die Schule in dieser Hinsicht macht. Gut sind Präventionskonzepte, aber auch Interventionskonzepte gehören dazu. Wenn beispielsweise ein Mobbingfall zum Vorschein kommt, ist professionelle Handlungsfähigkeit gefragt. Oft erfolgt erst dann der Ruf nach externer Hilfe, wenn Gewalt, insbesondere auch Mobbing, passiert sind. Es ist auch richtig, dass Schule sich Hilfe holt. Aber auf lange Sicht ist es nachhaltiger, wenn die Kompetenzen dafür in der Schule selbst etabliert sind.
Lehrer-News: Vielen Dank für das Gespräch.