Kein Klassenzimmer, kein Druck – aber mehr Erfolg?

Das Buch "Das könnte Schule machen" liegt auf dem Nachttisch neben einem Bett.

Das Buch “Das könnte Schule machen” zeichnet den Weg von der ersten Idee bis zum heutigen Konzept an der Alemannenschule nach. (Quelle: Amazon)

Tief im Süden unserer Republik, am südöstlichen Schwarzwaldrand, da wo die Schweiz ein kleines Stückchen ins Baden-Württembergische ragt und die Menschen sich mit “Salli” begrüßen, steht die Alemannenschule, eine öffentliche Gemeinschaftsschule, an der ungefähr 900 Kinder und Jugendliche von der ersten bis zur 13 Klasse zur Schule gehen und dabei vom Hauptschulabschluss bis zum Abitur alle Abschlüsse erlangen können. Eben diese Schule leitet Stefan Ruppaner und zwar so ganz anders als es an den meisten deutschen Schulen zugeht. Im Buch “Das könnte Schule machen – Wie ein engagierter Pädagoge unser Bildungssystem revolutioniert”, das Ruppaner gemeinsam mit der Journalistin und Autorin Anke Willers geschrieben hat, erklärt er das ungewöhnliche System an seiner Schule. 

An der Alemannenschule gibt es keinen Frontalunterricht, keine Klassenarbeiten und keine Klassenzimmer, dafür Lernbegleiter, die mit ihren Schüler:innen ganz individuell ihren Lernstoff besprechen, abgestimmt auf die Bedürfnisse eines jeden einzelnen und den baden-württembergischen Bildungsplan (Lehrer News berichtete).

Ein Schulleiter mit Vision

Schulleiter Ruppaner ist seit jeher ein Macher. Schon als die Alemannenschule noch eine “ganz normale” Schule war, leitete er die Bläserklasse in Musik, trat für ein Miteinander mit den Schüler:innen ein und probierte verschiedenes aus, um die Atmosphäre an der Schule zu verbessern. Damals störten ihn verschiedene Gegebenheiten an seiner Schule, zum Beispiel, dass die Schultüren erst fünf Minuten vor Unterricht für die Schüler:innen geöffnet wurden und diese im Winter draußen vor Unterrichtsbeginn frieren mussten. Und das Warten ging für die Kinder häufig vor den Klassenräumen weiter, die ebenfalls abgeschlossen waren, bis die Lehrkraft, oft genug zu spät, sich zum richtigen Raum vorgearbeitet hatte. Ging man nach der ersten Stunde weiter zum nächsten Kurs, grüßten Lehrkräfte und Schüler:innen oft gar nicht. Eine Atmosphäre der “geschlossenen Türen”. Der Anfang vom Anfang war aber der Film “Treibhäuser der Zukunft” von Filmemacher Reinhard Kahl, der unter anderem die Bodensee-Schule St.Martin, eine katholische Schule, die seit 1971 Ganztagsschule ist, porträtiert. Kahl beschreibt es so: “Individualisierung und Förderung von Kooperation sind das “Yin und Yang” dieser und anderer erfolgreicher Schulen. Sie riskieren das eigentlich Selbstverständliche: Lernen ist eine Aktivität der Schüler. Dazu ermutigen die Lehrer. Dahin zieht und erzieht die gesamte Organisation des Alltags.” 

Schulleiter Ruppaner war fasziniert und machte sich vor Ort selbst ein Bild. Und stellte fest: Der Film übertreibt nicht. Vor allem die Atmosphäre beeindruckte ihn: “Das Wohlwollen der Lehrkräfte, ihre Geduld und Aufmerksamkeit für jedes Kind auf der einen Seite – und auf der anderen Seite die Ernsthaftigkeit, Konzentration und geschäftige Betriebsamkeit der Kinder, ihre Lust, Fragen zu stellen und Probleme zu lösen.” Ruppaner war sofort klar, er versteht zwar noch nicht ganz, wie der Schulleiter an der Bodensee-Schule das schafft, aber ihm wurde klar, dass an seiner Alemannenschule nicht so ein Miteinander herrscht und dass er das schnell ändern möchte. 

Aufbruch zur Gemeinschaftsschule: Ruppaners mutiger Wandel

Das Buch “Das könnte Schule machen” zeichnet den Weg von der ersten Idee bis zum heutigen Schulkonzept der Gemeinschaftsschule an der Alemannenschule nach. Positiv fällt auf, dass Ruppaner sich nicht in Allgemeinplätzen über die Zukunft der Bildung verliert, sondern ganz konkret pädagogische Konzepte und Ideen erläutert, wie seine Schule zur Gemeinschaftsschule geworden ist und wie sie zum Beispiel das Leitbild der Schule, das auf Anstand, Selbstverantwortung und Willen aufbaut, gemeinsam mit dem Schweizer Schulgründer Peter Fratton entwickelt haben. Dabei wird auch deutlich, dass so eine völlige Neustrukturierung der Schule nicht alleine geht, es braucht Unterstützung von außen und aktive Gestalter:innen innerhalb der Schule. 

Kein Frontalunterricht, sondern Selbstbestimmung – die Neuordnung der Klassen

An der Alemannenschule gibt es keine Klassenarbeiten, sondern Gelingensnachweise. Der Unterschied? Das Kind entscheidet, wann es sich in einem Kompetenzbereich sicher fühlt und den Nachweis erbringen möchte. Aber auch die ganze Art des Lernens hat sich verändert. Lehrer wurden zu Lernbegleitern, die heute ihre Schüler:innen coachen statt zu unterrichten. Hier lernen Schüler:innen unterschiedlichen Alters mit unterschiedlichen Lernständen in Lerngruppen (individuelles Lernen) und Clubs (kooperatives Lernen) zusammen, Frontalunterricht in festen Klassenräumen gibt es nicht mehr. Damit das ganze funktionieren kann, gibt es Regeln, die für die ganze Schule gelten. Es herrscht Hausschuhpflicht, es darf nicht geschrien werden, es gibt sogenannte Flüsterzonen, also Orte wo lautes Reden untersagt ist, damit die Schüler:innen Ruhe haben, Termine müssen eingehalten werden und Müll muss aufgeräumt werden – das sind nur einige der Regeln. Kommen Kinder neu an die Schule, gelten sie als “Starter” bis sie diese Regeln verinnerlicht haben. Von “Starter” über “Durchstarter” bis hin zu “Lernprofis” können sie sich weiter hocharbeiten. Lernprofis dürfen nach Absprache auch von Zuhause aus arbeiten und bekommen einen Schlüssel für die Schule. Kinder, die es nicht schaffen sich an die Regeln zu halten, bekommen als “Neustarter” eine zweite Chance. Ruppaner geht in seinem Buch auch darauf ein, welche Änderungen das neue Konzept für Lehrkräfte mit sich gebracht hat. Zusammengefasst lässt sich sagen: Sie sind nicht mehr alleine. 

Offene Räume, offene Köpfe: Der Umbau als Impulsgeber

Eine der Änderungen, die an der Alemannenschule sofort sichtbar sind, ist die neue räumliche Gestaltung der Schule. Auch aufgrund von Kahls Film wollte der Schulleiter den ganzen Aufbau der Schule ändern. Er argumentierte mit den Ergebnissen der Hattie-Studie (Lehrer News berichtete), um das ganze Vorhaben zu finanzieren. Wie an vielen Stellen im Buch wird auch hier deutlich: Ruppaner ist ein Pragmatiker, der erfrischend ehrlich mit eigenen Fehlern oder Unwissen umgeht. “Die Hattie-Studie kannte beispielsweise gar nicht und wurde von einem Kollegen darauf aufmerksam gemacht.” Was folgte, war der Umbau der Schule. Die Ergebnisse lassen sich im Buch samt Fotos bewundern: Auf einem Bild sind unten offene Lernbereiche und oben Baumhäuser für Lerngruppen zu sehen, auf einem anderen Bild ein Coworkingspace für Schüler:innen, der an der Alemannenschule Marktplatz genannt wird. Ob Ecken zum Chillen und Bereiche, die sich mit Vorhängen abtrennen lassen, um Coachings durchzuführen – gemeinsam haben alle den offenen Charakter. Es soll keine verschlossenen Türen, sondern gemeinsames Lernen geben. 

Lehrkräfte und vor allem Schulleitungen sollten dieses Buch lesen, weil es nicht nur ein inspirierendes Praxisbeispiel für eine Schule ohne Frontalunterricht, Klassenarbeiten und klassische Klassenzimmer liefert, sondern auch konkrete Wege aufzeigt, wie eine solche Transformation gelingen kann. Stefan Ruppaner beschreibt ehrlich die Herausforderungen und Erfolge der Alemannenschule, gibt praxisnahe Einblicke in neue Lernkonzepte und verdeutlicht, wie Lehrkräfte zu Lernbegleiter:innen werden können. Wer nach innovativen Ansätzen für eine zeitgemäße Schulentwicklung sucht, findet in diesem Buch wertvolle Impulse und erprobte Ideen für den eigenen Unterricht.

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