Leere Klassenräume unter der Woche sind in Sachsen-Anhalt keine Seltenheit (Quelle: Envato)
Magdeburg. In Sachsen-Anhalt hält der gravierende Lehrkräftemangel weiter an, sodass das Land nun auf weitere Gegenmaßnahmen setzt. Neben dem bestehenden Pilotprojekt der Vier-Tage-Woche und studentischen Lehrkräften sollen im kommenden Schuljahr die Hürden für Quer- und Seiteneinsteigerinnen im Schulwesen gesenkt und eine höhere Einstiegsbesoldung umgesetzt werden. All das mit dem Ziel, mehr Lehrkräfte an die Schulen zu locken und einen reibungslosen Unterricht ohne Ausfälle zu gewährleisten.
Nach Angaben der Landesregierung fehlen an den Schulen in Sachsen-Anhalt derzeit rund 1.000 Lehrkräfte. Besonders betroffen davon sind Sekundar- und Gemeinschaftsschulen. Bis 2035 sollen diese Zahlen nach Schätzungen der Kultusministerkonferenz (KMK) auf mindestens 23.800 bundesweit fehlende Lehrer:innen steigen. Dabei versucht Sachsen-Anhalt seit mehreren Jahren, mit unterschiedlichen Maßnahmen gegen den Lehrkräftemangel vorzugehen – mit wenig Erfolg.
Seit letztem Jahr experimentieren zwölf Sekundar- und Gemeinschaftsschulen in Sachsen-Anhalt mit einer Vier-Tage-Woche, kurz 4+1. Das bedeutet, dass die Schüler:innen an vier Tagen in der Woche in die Schule gehen und der fünfte Tag für kreative Lernerfahrungen genutzt wird. Dabei ist die Gestaltung dieses Tages recht flexibel – eigenständiges digitales Lernen oder ein Praktikum in einem Unternehmen sind möglich. Auf diese Weise soll mehr Entlastung für die Planung und Durchführung des Unterrichts geschaffen werden. Was die einen als positive Möglichkeit zur Verknüpfung zwischen Schule, Wissenschaft und Wirtschaft sehen, wird von den Lehrerverbänden äußerst kritisch beurteilt: Neben einer enormen zusätzlichen Belastung sieht der Verband Bildung und Erziehung (VBE) in dem Modell eine “Bankrotterklärung des Landes Sachsen-Anhalt im Bildungsbereich”, während der ehemalige Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger, einen Niveauverlust befürchtet. Eine Bilanz zu diesem Modell will das Bildungsministerium in Magdeburg zum Ende dieses Jahres ziehen.
Für das neue Schuljahr hat Sachsen-Anhalt knapp 570 neue Stellen für Lehrkräfte ausgeschrieben. Das Besondere: Das Bildungsministerium wendet sich mit dieser Ausschreibung nicht nur an ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer, sondern auch an Interessierte ohne abgeschlossenes Studium. Als Voraussetzung müssen sie eine Qualifikation, etwa als Fachwirt oder Meister mitbringen. Erstmals werden mit dieser Ausschreibung auch Nichtakademiker:innen berücksichtigt. Die Interessierten sollen als Seiteneinsteiger:innen in Sekundarstufen für Unterrichtsfächer wie Technik, Wirtschaft, Musik oder Kunst eingesetzt werden. Bildungsministerin Eva Feußner sieht in dieser Vorgehensweise einen großen Vorteil: “Mit dem Anwerben von Seiteneinsteigenden, zu denen nun auch bestimmte Nichtakademiker gehören, fördern wir aktiv eine praxis- und lebensweltorientierte Vorbereitung der Kinder auf ihr Leben nach der Schule.” Zudem könne allen Lehrkräften ein maßgeschneiderter, gut bezahlter und sicherer Job im Landesdienst angeboten werden. Die Bewerbung läuft noch bis zum 31. Juli 2023.
Neben dieser Ausschreibung setzt Sachsen-Anhalt auf den Einsatz von Personalberatungsagenturen oder sogenannten “Headhunterfirmen”. Sie sollen gezielt nach Seiteneinsteiger:innen und Lehrkräften aus dem Ausland für die Einstellung in den Schuldienst suchen. Bislang konnten so bislang rund 90 Kräfte angeworben werden.
Ob diese Seiteneinsteiger:innen aber dauerhaft an den Schulen bleiben, ist fraglich. Denn viele von ihnen steigen nach wenigen Monaten Einsatz aus dem neuen Job bereits wieder aus: Im vergangenen Jahr wurden in Sachsen-Anhalt knapp 800 Seiteneinsteiger:innen eingestellt, zum Ende des Jahres verließen rund 500 von ihnen wieder ihren Posten, wie aus den Daten des Bildungsministeriums hervorgeht. Der Grund: Viele von ihnen fühlen sich ins kalte Wasser geschmissen und sind mit den Ansprüchen des Lehrberufs überfordert, da ihnen eine ausreichende Vorbereitung fehlt: “Die Seiteneinsteiger haben natürlich ihre fachliche Ausbildung, aber nicht die didaktische und pädagogische Ausbildung”, schlussfolgert Thomas Lippmann, bildungspolitischer Sprecher der Linksfraktion in Sachsen-Anhalt.
Zuletzt wurden über 130 Student:innen ohne Abschluss als Lehrkräfte an öffentlichen Schulen eingesetzt. Die meisten von ihnen unterrichteten an Grundschulen. Auf diese Weise konnte ein Umfang von 1.706 Unterrichtsstunden pro Woche durch die Studierenden abgedeckt werden – eine Erleichterung für die anderen Lehrkräfte und ein Vorteil für die Studierenden: Sie können frühzeitig Praxiserfahrung sammeln und gleichzeitig einen kleinen Beitrag gegen den Lehrermangel leisten. Dieses Konzept wird auch von anderen Bundesländern eingesetzt und dabei aufgrund der hohen Anforderungen an die Umsetzung kritisch betrachtet.
Der andauernde Lehrkräftemangel bringt viele Schulen Sachsen-Anhalts an ihre Grenzen. Eltern, Kommunalpolitiker:innen und Hochschulen kritisieren diese Zustände, doch ein Ende ist nicht in Sicht. Der im Januar 2023 stattgefundene Bildungsgipfel hat dabei wenige Lösungen geboten und stattdessen für mehr Kritik gesorgt: Der Vorschlag von Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU), Lehrkräfte zum Ausgleich des Mangels eine Stunde länger arbeiten zu lassen, wurde von der GEW Sachsen-Anhalt entschieden zurückgewiesen. Stattdessen müssen nach Einschätzungen von Eva Gerth, Vorsitzender der GEW, vor allem die Hürden für die Lehramtsausbildung niedriger werden. Das bedeute zum einen die Abschaffung des NC auf Lehramtfächer und zum anderen ein ausgedehntes Angebot für ein Lehramtsstudium in nördlichen Teilen des Bundeslandes. Ein guter Schritt in die richtige Richtung ist bereits geschehen: Die ungleiche Bezahlung von Grundschullehrkräften wird angegangen – Sachsen-Anhalt hat, ebenso wie Niedersachsen (Lehrer-News berichtete) eine Angleichung an A 13 für beamtete und E 13 für angestellte Grundschullehrkräfte beschlossen, die ab August 2023 beginnen soll.