Reaktionen auf Pisa: Verbände fordern Konsequenzen für die Bildungspolitik

Die Vorsitzende des Philologenverbands, Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing (2.v.l.), fordert angesichts der Pisa-Ergebnisse eine Stärkung des Fachunterrichts, um Lehrkräfte zu entlasten (Quelle: DPhV)

Die jüngsten Ergebnisse der Pisa-Studie zeichnen ein düsteres Bild vom Stand des deutschen Bildungssystems (Lehrer News berichtete). Gewerkschaften und Verbände fordern, jetzt dringend Konsequenzen zu ziehen. Ein Überblick.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) mahnt mit Blick auf die ernüchternden PISA-Befunde dringend eine konsequente individuelle Förderung der Kinder und jungen Menschen an. Dafür müssten die Anstrengungen, den Lehr- und Fachkräftemangel effektiv zu bekämpfen, deutlich erhöht werden. Zudem schlägt die GEW einen Masterplan gegen Bildungsarmut und soziale Ungerechtigkeit vor. Dass sich die Abhängigkeit der schulischen Leistungen der Kinder und Jugendlichen vom Elternhaus seit über 20 Jahren nicht verringert hat, bezeichnete die Bildungsgewerkschaft als „Skandal“.

„Die PISA-Ergebnisse sind für die Lebens- und Berufschancen vieler Schülerinnen und Schüler sehr problematisch, für die Schulpolitik beschämend“, sagte Anja Bensinger-Stolze, GEW-Vorstandsmitglied Schule, am Dienstag in Frankfurt a.M. „Deutschland hat seit Jahrzehnten sowohl ein Leistungs- als auch ein eklatantes Gerechtigkeitsproblem. Fatal ist: Nach einigen leichten Verbesserungen in den PISA-Runden in den 2000er-Jahren sind wir ungebremst wieder auf dem Niveau von vor 22 Jahren angekommen. Das ist eine schulpolitische Bauchlandung.“ Bensinger-Stolze schlug unter anderem eine durchgängige Förderung der Grundkompetenzen vor, die weder nach der Grundschule noch vor dem Schultor aufhöre, und verlangte, soziale Hürden im Schulsystem abzubauen.

„Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat – als Reaktion auf die erste PISA-Studie im Jahr 2001 – den Fokus zu sehr auf das Thema ‚Qualitätsentwicklung und Standardisierung‘ gelegt und viel zu wenig auf andere Handlungsfelder wie die Sprach- und Leseförderung, die wirksame Unterstützung benachteiligter Kinder und die Ganztagsschulentwicklung gesetzt“, erläuterte die GEW-Schulexpertin.

„Anstatt immer wieder die Alarmglocken neu zu läuten und das ‚Scheitern‘ von Schülerinnen und Schülern zu beklagen, müssen wir die Fehler im System analysieren – und beheben“, betonte Bensinger-Stolze. Mit Blick auf die frühe Selektion, die sozial ungerechte Finanzierung des Schulsystems und den eklatanten Personalmangel unterstrich sie: „Der ‚Output‘ wird nicht besser, wenn der ‚Input‘ nicht stimmt. Die Schülerleistungen werden sich nie in der Breite verbessern, wenn wir die Kinder weiterhin so früh auf hierarchische Schulformen aufteilen. Es ist ein Fehler zuzulassen, dass sich soziale und personelle Probleme in bestimmten Schulen stark konzentrieren. Wer hier zu wenig unternimmt oder gar spart, muss sich nicht wundern, dass so viele Schülerinnen und Schüler durchs Netz fallen und später Fachkräfte fehlen“, sagte die GEW-Expertin. Das Startchancenprogramm der Bundesregierung sei nur ein „Tropfen auf den heißen Stein“, wenn es nicht verstetigt und Teil des Systems werde.

Der Deutsche Philologenverband (DPhV) sieht “im Schlechten durchaus auch Positives”, so die DPhV-Vorsitzende Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing. Zum einen sei es gelungen, trotz der Schwierigkeiten während der Corona-Krise den Anteil der Schülerinnen und Schüler in den niedrigsten Kompetenzstufen in allen Kompetenzbereichen unter dem OECD-Durchschnitt zu halten. Gleichzeitig sind z.T. sichtbar mehr Schülerinnen und Schüler als im OECD-Durchschnitt in den obersten Kompetenzstufen, so z.B. im Bereich der Naturwissenschaften. Dabei sei die Leistungsschere nicht weiter aufgegangen, der Abstand zwischen den leistungsstärksten und -schwächsten Schüler:innen veränderte sich im jüngsten Zeitraum nicht signifikant.

Lin-Klitzing dankt vor diesem Hintergrund den engagierten Lehrkräften in Deutschland. „Es ist angesichts der vielen belastenden Bedingungen beeindruckend, was unsere Lehrkräfte tagtäglich leisten. Das äußert sich nicht zuletzt auch in den zusätzlichen Unterstützungsangeboten, die die große Mehrheit der Schüler und Schülerinnen ihren Lehrkräften etwa im Mathematik-Unterricht bescheinigen.“

Selbstverständlich könne man zum anderen mit der Leistungsentwicklung über die Zeit betrachtet überhaupt nicht zufrieden sein. Lin-Klitzing: „Obwohl die Studie schulische Bildungsziele als Gesamtheit nicht ausreichend abbildet, bestätigt sie doch insgesamt leider negative Trends, die wir seit Jahren beobachten.“ Laut PISA fielen 2022 die Durchschnittsergebnisse in Mathematik, Lesekompetenz und Naturwissenschaften bei den getesteten 15-Jährigen schwächer aus als 2018. Zudem handelt es sich dabei in allen drei Kompetenzbereichen um die niedrigsten Werte, die jemals im Rahmen von PISA gemessen wurden.

Die Gründe für die nicht zufriedenstellenden Ergebnisse sind laut Lin-Klitzing dabei z.T. hausgemacht. So litten die Lernergebnisse vieler Schüler:innen auch unter den derzeit sehr herausfordernden Rahmenbedingungen für das System Schule insgesamt und für die Lehrkräfte. Lin-Klitzing: „Es ist es wichtig, dass die Politik den Fachunterricht wieder zur Priorität erklärt. Lehrkräfte müssen umgehend und nachhaltig von unterrichtsfernen Aufgaben entlastet werden – sie sind weder Hilfskräfte in der Verwaltung, Sozialarbeiter noch Reiseverkehrskaufleute. Sie sind Fachleute für die Vermittlung ihrer Fächer – die brauchen wir, wie die fachlichen Leistungen unserer Schülerinnen und Schüler in PISA zeigen, heute mehr denn je. Und wir müssen dafür sorgen, dass Lehrkräfte das auch in Zukunft bleiben. Deswegen müssen die Fachwissenschaften in der ersten Phase der Lehrkräftebildung erkennbar gestärkt werden, statt sie zu Gunsten wechselnder gesellschaftlicher ‚Reparaturaufgaben‘ immer weiter an den Rand zu drängen.“

Scharfe Kritik kam vonseiten des Generalsekretärs der Bundesschülerkonferenz, Florian Fabricius. “Wir kämpfen mit einem gravierenden Lehrermangel, Schulen sind nicht ausreichend digitalisiert, Mitschüler haben psychische Probleme und Klassenzimmer mit Schimmel zu kämpfen”, so der 18-jährige Abiturient. Chancengerechtigkeit im Klassenraum lasse weiter auf sich warten. „Jeden Tag erlebe ich, wie viele meiner Mitschüler von Depressionen, Zukunftsängsten und Stress geplagt werden. Wir haben es mit einer Epidemie psychischer Krankheiten in unseren Schulen zu tun“, sagt Fabricius. Angesichts dieser handfesten Bildungskrise überraschten die Ergebnisse überhaupt nicht, so Fabricius. 

Die Bundesschülerkonferenz fordert unter anderem ein 10-Milliarden-Sofortprogramm zur Schulsanierung und eine “180 Grad Wende” beim Thema mentale Gesundheit, die in den Schulen derzeit im Gegensatz zur physischen Gesundheit eine zu niedrige Priorisierung genieße. Während es an jeder Schule Erste-Hilfe-Stationen gebe, lasse die Ausstattung mit Schulpsycholog:innen und Sozialarbeiter:innen stark zu wünschen übrig, kritisiert Fabricius. Auch die Bildungsgerechtigkeit sei ein zunehmendes Problem in Deutschland. Startchancen-Programm und Schüler-BAföG, müssten ausgeweitet und institutionalisiert werden.

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