Reformen und Realität: Ein Einblick in die Entwicklung des polnischen Bildungssystems

Von
Carolin Kunkel
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November 2023
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Die polnische Bildungslandschaft könnte sich bald wieder ändern. (Quelle: Canva)

Polen hat Veränderung gewählt. Die jüngsten Parlamentswahlen vom 15. Oktober könnten auch für das polnische Bildungssystem einen erneuten Wandel bedeuten. In den letzten acht Jahren hatte die Regierung der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) weitreichende Umgestaltungen im Bildungsbereich vorgenommen. Doch während Pierogi, Wodka und Polonaise den meisten vertraut sind, bleibt das Bildungssystem unseres Nachbarlandes eher im Dunkeln. Hier lohnt sich ein genauerer Blick im Rahmen unserer Reihe Bildungssysteme der Welt, in der wir bereits das Schulwesen von Vietnam, Kanada, Kuba und Frankreich vorgestellt haben. Wie ist das polnische Bildungssystem strukturiert? Welche Veränderungen wurden durch den politischen Einfluss herbeigeführt? Und inwiefern stehen erneute Reformen durch die Ergebnisse der diesjährigen Parlamentswahl bevor? 

Polens Bildungssystem nach den Reformen 1998

Das polnische Bildungswesen unterscheidet sich bereits in seinen Fundamenten von dem in Deutschland: Anders als bei uns  ist die Bildung bei unseren polnischen Nachbarn zentralistisch ausgerichtet und  obliegt der Verantwortung zweier Institutionen: dem Ministerium für Nationale Bildung (Ministerstwo Edukacji Narodowej) und dem Ministerium für Wissenschaft und Hochschulwesen (Ministerstwo Nauki i Szkolnictwa Wyższego). Die Struktur des Systems weist eine lange Geschichte auf, die bis ins westeuropäisch-katholisch geprägte Mittelalter zurückreicht. Nach dem Zweiten Weltkrieg, während in der Volksrepublik Polen ein sozialistisches Regime herrschte, erfolgte die Zentralisierung. Damit einher ging die volle Kontrolle über das Bildungswesen durch die Regierung. Diese Form der zentralen Kontrolle setzte sich auch nach dem Ende des Kommunismus fort und prägte die Bildungslandschaft, was durch die Reformen der 1990er Jahren sogar noch weiter verstärkt wurde.

Mit der Schulreform von 1998 unter dem damaligen Bildungsminister Mirosław Handke hat sich die Struktur des Schulwesens in Polen noch einmal deutlich verändert, die Grundstrukturen sind bis heute dieselben: Unter anderem führte Handke eine Vorschulklasse ein, verkürzte die achtjährige Grundschulzeit auf sechs Jahre und fügte eine dreiklassige Mittelschule hinzu. Infolgedessen wurde auch die Schulpflicht bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres angehoben, wodurch Polen mit Deutschland gleichzog. Nach Abschluss der Mittelschule hatten Schüler:innen drei verschiedene weiterführende Schularten zur Auswahl, die entweder den Weg zur allgemeinen Hochschulreife, zu einer spezialisierten Hochschulreife wie in Mechatronik, Informatik oder Wirtschaft und den Abschluss einer Berufsausbildung in der Berufsgrundschule mit oder ohne Hochschulreife ermöglichten. Im Jahr 2009 wurde das Einschulungsalter von sieben auf sechs Jahre gesenkt, um internationalen Bildungsstandards näherzukommen und das Bildungssystem an die Entwicklungsbedürfnisse der Kinder anzupassen. 

Wahlsieg der PiS 2015 und erneute Bildungsreformen

Mit dem Wahlsieg der Partei PiS im Jahr 2015 übernahm eine nationalkonservative Partei die Regierungsverantwortung, die das 1998 reformierte Bildungssystem als zu liberal und pluralistisch erachtete. Somit standen die Rückkehr zu traditionellen Lehrmethoden und eine Verbreitung von Patriotismus und Nationalgedanken auf der Agenda. Im Jahr 2017 folgten die ersten Schritte in der Umgestaltung der Bildungslandschaft, indem das ehemalige Schulsystem vor der Reform von 1998 wiederhergestellt wurde. Die Mittelschule wurde abgeschafft und die Grundschule erneut auf acht Jahre verlängert. Die Reform stieß auf heftige Kritik, nicht zuletzt weil die Leistungen der polnischen Schüler:innen in der PISA-Studie im europäischen Vergleich für diesen Zeitraum erfolgreich gewesen waren. 

Der polnische Bildungsminister Przemysław Czarnek versuchte außerdem mithilfe des rechtlichen Rahmens, den Zugang von NGOs, deren Ziele nicht der PiS-Ideologie entsprechen,  zu Schulen zu unterbinden. Das “Lex Czarnek” wurde trotz zweimaliger Blockierung durch das Veto des Präsidenten Andrzej Duda im August 2023 verabschiedet. Unter dem Motto “Kinder schützen, Eltern schützen" verbietet dieses Gesetz die Tätigkeit von “Vereinen oder anderen Organisationen, die Themen im Zusammenhang mit der ‚Sexualisierung‘ der Kinder fördern”, wobei “Sexualisierung” jedoch nicht präzise definiert ist, was einen Interpretationsspielraum für Schulleitungen lässt. Betroffen hiervon sind vor allem Organisationen, die zur Aufklärung über sexuelle Gesundheit und LGBTQIA+-Themen beitragen, wodurch Schüler:innen wichtiges Wissen vorenthalten wird.

Zudem strebte die PiS eine Neugestaltung der Lehrinhalte an, um einen stärkeren Fokus auf patriotische Werte und nationale Identität zu legen. Zum Schuljahr 2022/2023 wurde ein neues Unterrichtsfach eingeführt, das das bisherige Fach der Gesellschaftskunde (Wiedza o Społeczeństwie – WoS) ersetzen soll. Unter dem Titel Geschichte und Gegenwart (Historia i Teraźniejszość – HiT) wird das Fach seitdem mit einem Umfang von zwei Wochenstunden gelehrt. Diese Änderung ging auch mit der Einführung eines neuen Schulbuchs einher. Gesellschaftlich stieß dieses aufgrund seiner Voreingenommenheit auf heftige Kritik, so wird einerseits die liberale Demokratie stark kritisiert und andererseits historische Ereignisse, wie den Flugzeugunfall von Smolensk im Jahr 2010 als Anschlag, falsch dargestellt. Kritiker:innen bemängelten außerdem, dass die Politik der PiS übermäßig gelobt werde, während andere Parteien in ein schlechtes Licht gerückt würden. Durch die Vernachlässigung von Objektivität werde die Nachkriegszeit Polens aus einer nationalkonservativen Perspektive dargestellt.

Bezüglich der Haushaltsausgaben für Bildung ist Polen eines der wenigen EU-Länder mit einem sinkenden Trend. Während die Ausgaben für den Bildungsbereich in Relation zum BIP im Jahr 2005 6,1 Prozent betrug, waren es 2021 nur 4,9 Prozent. Zwar stellte die polnische Lehrergewerkschaft fest, dass Regierungssubventionen für die Bildung in absoluten Zahlen steigen würden, jedoch im Verhältnis zum BIP sänken. Diese Entwicklungen riefen Besorgnis in Bezug auf die Bildungsqualität in Polen hervor.

Allerdings liegen auch nach sechs Jahren noch immer keine Gesamtanalysen der Folgen der Reform vor, wie aus den Informationen des Pressebüros im Ministerium für Bildung und Wissenschaft hervorgeht.

Deutsch-polnisches Geschichtsbuch durch die PiS-Regierung blockiert

Während die Bildungsreformen in Polen im Mittelpunkt der Diskussion stehen, ist auch die Einführung des neuen deutsch-polnischen Geschichtsbuches nach dem Vorbild des deutsch-französischen zur Nachkriegsgeschichte ein kontroverses Thema seit Regierungsantritt der PiS (Lehrer News berichtete).

Die Idee war in Polen zunächst skeptisch aufgenommen, aber nach einem Regierungswechsel 2007 unterstützt worden. Im Jahr 2016 feierten sowohl Deutschland als auch Polen die Veröffentlichung des ersten Bandes, gefolgt von drei weiteren Bänden. Doch obwohl das Buch in allen deutschen Bundesländern bis auf Bayern zugelassen wurde, stieß besonders der vierte Band in Polen auf Ablehnung. Kritikpunkte aus Polen betrafen unter anderem die Darstellung des Warschauer Aufstandes 1944. Die Ablehnung des Buches durch die PiS-Regierung führte zu einer Unterbrechung des Zulassungsverfahrens, was seitdem den Fortbestand des Projekts in Frage stellt.

Im Unterricht in Polen kann das deutsch-polnische Schulbuch zwar als Hilfsmittel verwendet werden, auch wenn es nicht auf der offiziellen Empfehlungsliste des Erziehungsministeriums steht. Viele Lehrkräfte ziehen es jedoch vor, die von der Regierung empfohlenen Titel zu verwenden, um potenzielle Auseinandersetzungen mit Vorgesetzten zu vermeiden. 

Mögliche Auswirkungen der Parlamentswahlen 2023 auf das Bildungssystem

Im Oktober 2023 fanden zum zehnten Mal seit dem Systemwechsel 1989 Parlamentswahlen in Polen statt. Zwar stellt die PiS erneut die stärkste Kraft im Parlament, verfehlte aber die absolute Mehrheit, die nun von einer Koalition aus drei Oppositionsparteien (liberalkonservative Bürgerkoalition, christlich-konservativer Dritter Weg, Linksbündnis Lewica) erreicht werden kann. Die Verhandlungen zur Regierungsbildung werden sich wahrscheinlich noch bis Dezember hinziehen. 

Voraussichtlich wird es die oberste Priorität der neuen Regierung sein, die PiS zu entmachten und Reformen in die Wege zu leiten, die das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung stärken sollen. So könnten der Wiederaufbau der Rechtsstaatlichkeit, Investitionen in das Bildungswesen und den öffentlichen Sektor sowie eine symbolträchtige Erhöhung der Gehälter von Lehrkräften die kommenden politischen Schritte darstellen. Laut den Einschätzungen des Leiters des Warschauer Büros des ECFR, Piotr Buras, sei das Bündnis zahlenmäßig stabil und sich in bestimmten Punkten wie dem Aufbau der Rechtsstaatlichkeit einig. Dennoch könnten auch potenzielle interne Spannungen hinsichtlich des Umfangs und der Umsetzung der Reformpläne auftreten.

Diese Entwicklungen in Polens Bildungssystem verdeutlichen den anhaltenden politischen Druck, unter dem der Bildungsbereich seit Jahrzehnten steht. Zu hoffen bleibt, dass die politische Neuordnung positive Impulse für die Bildung in Polen bringt und zu einer umfassenderen und nachhaltigen Stärkung des polnischen Bildungswesens führt.

Was meint ihr?  Wird sich das polnische Bildungssystem bald schon wieder ändern? Schreibt eure Meinung gerne in die Kommentare. Falls ihr noch weitere Bildungssysteme kennenlernen wollt, folgt diesem Link.

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