Quelle: Helmut Fricke
Tausende von Schüler:innen an deutschen Schulen verlassen das Bildungssystem ohne einen Abschluss. Allein im Jahr 2021 gab es über 50.000 junge Schulabbrecher:innen. Menschen, deren berufliche Zukunft stark in Gefahr ist. Glücklicherweise gibt es Wege und Mittel, dem Schulabbruch vorzubeugen. Eine Hamburger Schule hat bereits Projekte entwickelt mit denen erfolgreich gegen Absentismus vorgegangen wird, aber was ist mit Schulabbrecher:innen, die aus dem System raus sind und eventuell unter Problemen wie Sucht oder psychischen Erkrankungen leiden? Für diese gibt es das Bildungszentrum Hermann Hesse: Die Schule der neuen Chancen.
Das Hermann Hesse Bildungszentrum (BZH) gilt als die letzte Chance für Schulabbrecher:innen. Angehende Schüler:innen von 15 bis 35 Jahren können hier ihren Hauptschulabschluss, den Realschulabschluss, die Fachhochschulreife oder auch das Abitur nachholen. In staatlich anerkannten, aber auch kleinen Klassen verspricht die BZH einen respektvollen Unterricht auf Augenhöhe.
Es ist ein etwas anderer Bildungsort, der "nirgendwo richtig reinpasst”, in diesem Fall ist sie einzigartig, dem ist sich ihr Schulleiter Jan Große bewusst. Auch die Schüler:innen der BZH sind einzigartig. Die Studierendenschaft bildet sich aus denjenigen, die an anderen Schulen untergingen. Um jeden der von anderen Schulen als ‘Problemfälle’ abgestempelten Schüler:innen gerecht zu werden, hat das BZH einiges an Maßnahmen eingerichtet. Jede Schülerin und jeder Schüler wird von einem Sozialarbeiter begleitet und es kommt zu regelmäßigen Perspektivgesprächen. Mobbingopfer, Schulabbrecher, insbesondere auch ‘seelisch behinderte’ wie Menschen mit psychischen Erkrankungen (darunter Depression, ADHS, bipolare Persönlichkeitsstörung und Posttraumatische Belastungsstörung) aber auch diagnostizierte Sucht- und Drogenabhängige bekommen so die Hilfe die sie verdienen und benötigen, wie Große Lehrer-News gegenüber verständigt.
Gegründet wurde das BZH 1971 als Resultat des verstärkten Drogenkonsums der 1970er Jahre. Jugendliche, die einen Ausweg fern von der Sucht wollten und Unterstützung erbitten, wurden vom Haus der Volksarbeit E.V. gemerkt, die die Initiative ergriff und das Konzept ins erarbeitete.
Schulabschlüsse sollen, neben Entgiftung und therapeutischen Maßnahmen, eine Rehabilitation ermöglichen. Die ersten Stunden wurden in einer Wohnung in Bockenheim vollzogen, familiär und provisorisch. Ihren namen ‘Hermann Hesse Schule’, benannt nach einem Nobelpreis Winnenden Dichter dessen Schulzeit geprägt von Unterbrechungen, Abbrüchen und „Umwegen“, bekam sie von ihren ersten Schüler:innen. 1973 wurde sie staatlich genehmigt und im Jahr darauf schon als Rheaeinrichtung anerkannt. 1984 wird die Jugend und Suchtberatungsstelle eingerichtet, um für psychosoziale Betreuung während der Schulzeit zu sorgen. Der Ansturm an neuen Applikant:innen wächst stark, bis letztendliche 1986 eine ehemalige Druckerei im Hainer Weg 98 zum Schulgelände umfunktioniert wird, als welches sie noch heute dient. 1992 wird die BZH offiziell staatlich anerkannt und umbenannt in das Bildungszentrum Hermann Hesse. Seit der Gründung vor über 50 Jahren hat sich viel verändert, besonders die Schulabgänger:innen. “Bis 2022 haben 1.584 Menschen, die aus dem regulären Schulsystem herausgefallen sind, ihren Abschluss.” teilt uns Große erfreut mit. Über 1500 Schüler:innen die freiwillig ihre Chance wahrgenommen, ihren Abschluss gemacht und erfolgreich rehabilitiert wurden. “Ungefähr 30 Abschlüsse pro Jahr”. 30 Schüler:innen mit einer besseren Zukunft.
Doch auch wenn das damalige Hauptaugenmerk auf Suchtabhängige lag, so will das BZH alle Schüler:innen mit ihren unterschiedlichen Problemen willkommen heißen und ihnen eine letzte Chance geben. Dabei trügt die Aussage ‘letzte Chance’. Auch wer mal durchfällt oder rückfällig wird, kann es nochmal versuchen. Ein zweites, drittes oder auch zehntes Mal. Das BZH gibt seine Schüler nicht auf. Nur bei Gewalttaten, Dealing oder Drogenkonsum auf den Schulgeländen folgt der Rauswurf.
Allerdings ist auch diese Bildungseinrichtung vom Lehrermangel nicht verschont. So erklärt Schulleiter Jan Große gegenüber Lehrer-News: “Als Privatschule haben wir es da noch etwas schwerer, da wir keine Lehrkräfte aus dem Schulamt zugeteilt bekommen und natürlich auch nicht mit einer Beamtenstelle ‘locken’ können.” Dabei ist das Kollegium selbst schon sehr alt, viele schon seit über zwanzig Jahren tätig, einige sogar seit drei Jahrzehnten. “Im nächsten dreiviertel Jahr gehen vier Lehrkräfte, davon eine Funktionsstelle (stellvertretende Schulleitung) in den Ruhestand.”
Die daraufhin folgenden offenen Stellenangebote zur BZH befinden sich auf der Homepage, aber auch in Print- und Digitalmedien. Medienpräsenz, so hofft die Schule, soll ebenfalls Interessenten locken. Ungefähr ein Drittel des Lehrkörpers besteht aus Quereinsteigern ohne abgeschlossenes Staatsexamen.
Auch im Bezug auf Digitalisierung gibt es noch einiges zu tun, was Große Lehrer-News mitteilt und präzise erklärt warum es besonders für ihre Bildungsstätte aufwendig ist: “Schwierigkeiten sehe ich darin, dass diese ‘Entdeckungsreise’ in eine digitale Zukunft parallel zu allen anderen Herausforderungen abläuft und so auf Grund der begrenzten Ressourcen mitunter nur recht bedingt aktiv gestaltet und vorangetrieben werden kann.” Dennoch setzt auch das BZH auf eine Schulverwaltungssoftware, über die der Stundenplan, der Vertretungsplan und auch Klassenbücher digital erstellt und bearbeitet werden, was auch der Schülerschaft sehr gelegen kommt. Unter anderem sieht Große weiterhin Potenzial in der Unterrichtsvorbereitung und Gestaltung.
Aber die größte Herausforderung sind die Schüler:innen selbst, das ist sich auch Große bewusst. “Diese ‘Mischung’ bringt besondere Herausforderungen mit sich.” meint er in Bezug auf die ‘seelisch behinderte' Schülerschaft. Gerade aus diesen Gründen sind er und das BZH so erpicht, die Schülerschaft zu unterstützen, “Dem begegnen wir mit kleinen Klassen von acht bis zwölf Schüler:innen pro Klasse, einem engen sozialpädagogischen Betreuungssetting in dem jeder/jede Schüler:in einer Person aus der Sozialarbeit zugeordnet ist, enge interdisziplinäre Kooperation zwischen den beiden Berufsgruppen und ein respektvoller, wertschätzender Umgang miteinander.” Kommunikation, Respekt und Unterstützung sind der Kern des BZH. Regelmäßig werden intensive Perspektivgespräche geführt, um frühzeitig auf das Wohl der Schüler:in reagieren zu können.
Das Personal des BZH ist dabei besonders bedeutsam. Kontakt mit den Sozialarbeiter:innen erfolgt gleich bei der Einschulung und sie unterstützen die Schüler:innen in vielen Bereichen. Darunter hauptsächlich als Problem Anlaufstelle, aber auch bei Anträgen zur Kostenzusage, etwaigen Fragen, Freizeitgestaltung, Wohnungssuche, berufliche Orientierung oder einfach mal so.
Einen Fokus auf respektvollen Umgang und Kooperation gibt es auf allen Ebenen der Schule. Alle vier Wochen kommt es zu Fehlquotenkonferenzen bei der Anwesenheit oder Abwesenheit besprochen werden und über unterstützende Maßnahmen diskutiert wird, alles urteilsfrei.
Des Weiteren wird ein betreutes Wohnen angeboten, entweder in einem der zwölf Plätze im Nebengebäude oder als eine von zehn Fällen des Betreuten Einzelwohnens.
Finanziert wird das Bildungszentrum durch eine Mischfinanzierung. Zum Teil bekommen die Lehrkräfte ihr Gehalt durch das Ersatzschulfinanzierungsgesetz. Der Rest wird vom Landeswohlfahrtsverband gestemmt. Andernfalls wird die Sozialarbeit der Schüler:innen finanziert durch das Jugendamt, abhängig vom Alter der Schüler:innen. Einen Preis, der seinen Wert schon hunderte Male bewiesen hat. Die Schüler:innen bekommen hier, was sie an anderen Bildungseinrichtungen nie erhalten. Wie zum Beispiel Kevin, selbst Schüler des Bildungszentrums, hat selbst Erfahrungen mit Mobbing gemacht: “Mobbing war früher ein sehr heftiges Thema bei mir. Schon bei der Einschulung ging es los. Ich hatte früher auch Selbstmordgedanken gehabt.” Cora Hübsch, eine von Kevins Mitschüler:innen, teilt seine Erfahrungen als Mobbingopfer. “Ich habs ganz stark versucht… aber trotzdem.”
Abseits des Systems, das sie verstoßen oder aufgegeben hat, haben diese Schüler:innen ein Umfeld, in dem sie Kontakte mit Gleichgesinnten machen können und auf ein besseres Leben hinarbeiten können.
Doch verglichen mit den 50.000 tausend Jugendlichen, die jedes Jahr die Schule ohne Abschluss verlassen, ist das in Deutschland einzigartige Angebot, welches schon über tausend Schüler:innen neue Perspektiven eröffnet hat, ein Tropfen im Fass der deutschen Bildung. Dennoch wurde das Leben vieler vom Bildungszentrum Hermann Hesse verbessert, weil ihnen eine Chance ermöglicht wurde.
Der Wille ist da, das System muss nur bereit sein. Wie Hermann Hesse selbst schon sagte: “Wenn […] ein Mensch seine ganze Aufmerksamkeit und seinen ganzen Willen auf eine bestimmte Sache richtet, dann erreicht er sie auch.”
Ist euer Interesse geweckt? Mehr Informationen zum BZH findet Ihr z.B. in diesem Kurzfilm. Habt ihr Fragen zum pädagogischen Konzept oder könnt Ihr euch vielleicht sogar vorstellen, selbst am BZH zu unterrichten? Dann erreicht ihr die Schule unter 069 680909-0 oder per Kontaktformular.
Was sind eure Meinungen zum Bildungszentrum Hermann Hesse? Teilt eure Meinungen gerne in den Kommentaren!