Auf der ZEIT-Bestenliste: Verena Friederike Hasels „Das krisenfeste Kind“ (Quelle: Canva)
Gesellschaftliche Krisen, umweltpolitische Debatten, Künstliche Intelligenz – und mittendrin der ganz normale Schulalltag. In ihrem neuen Buch “Das krisenfeste Kind”, das im September im Kein & Aber Verlag erschienen ist, gibt die Psychologin und Journalistin Verena Friederike Hasel gewinnbringende Impulse für einen bedachten Umgang mit Kindern in der Schule und zu Hause, um sowohl ihnen als auch den heutigen Zeiten gerecht begegnen zu können. Die Kombination ihrer Studienabschlüsse, Drehbuch und forensische Psychologie, sowie die Reporter- und Autorinnentätigkeit für renommierte deutsche Zeitungen dürften die Lektüre dieses Sachbuchs spannend werden lassen.
Die Autorin spricht verschiedenste Felder an, die auf das Heranwachsen junger Schüler:innen Einfluss nehmen. Dabei prangert sie an, dass es bisher in Deutschland, oder zumindest im deutschen Bildungssystem, noch nicht wirklich angekommen sei, den Kindern im Umgang mit all diesen Einflüssen auf Augenhöhe zu begegnen. Hasel stellt deshalb in ihrem Buch pädagogische Konzepte und methodische Grundlagen vor, die sie auf ihren Reisen durch deutsche und finnische Schulen dokumentieren konnte. Dabei ist das Ziel jedoch keineswegs, durch stumpfe Gegenüberstellungen die Defizite des deutschen Bildungssystems anzuprangern. Stattdessen stellt sie klar: „Ich erzähle Geschichten vom Gelingen, denn negative kennen wir alle zu Genüge.“
Ganz konkret spricht Hasel von einem großen Bedarf, Kinder nachhaltiger auf die Zukunft vorzubereiten. Damit ist nicht nur die überfällige Überarbeitung von Lehrplänen gemeint: „Ich [zeichne] in diesem Buch ein sehr konkretes Bild davon, wie Lehrer:innen, Mütter und Väter Fähigkeiten wie Selbstregulation, Empathie, Resilienz und Gemeinschaftsgefühl fördern können.“ Ein stärkerer Fokus auf das „Denken, Reden und Handeln“ könne Wege eröffnen, Kinder sowohl schulisch als auch sozial und emotional besser für ihre Zukunft zu wappnen. Ein weiterer Fokus müsse laut Hasel auf Künstliche Intelligenz gelegt werden, insbesondere darauf, dass diese im Laufe der Zeit immer mehr Aufgaben übernehmen wird und Kinder deshalb auf eine Form des gesellschaftlichen Lebens vorbereitet werden müssen, die adhoc noch gar nicht vorliegt. Dieses Vorhaben mag für einige übermotiviert oder ungreifbar klingen, doch die Perspektivierungen der Autorin zeigen auf, wie nah das Morgen tatsächlich ist – und dass wir es daher auch genau so behandeln sollten.
Die Kinder von heute werden ihr Erwachsenenleben in einer extrem schnelllebigen Gesellschaft verbringen. Dabei kann man nur schwer von einem „Vorbereiten“ sprechen, als wäre der erste Lebensabschnitt in der Schule isoliert vom gesellschaftlichen Wandel, und das echte Leben gehe erst am Tag nach dem Schulabschluss los. Kinder haben ohnehin keine Vergleichswerte vom „Alten“; was Erwachsene als Wandel und Neuerungen ansehen, ist für sie von Anfang an gesetzt. Schüler:innen sollten daher mit Neuerungen durchs Schulsystem geleitet werden, anstatt erst veraltete Lehrmethoden zu verinnerlichen, um dann zu hören, was es mittlerweile theoretisch schon für tolle Konzepte gibt. Das könne zum Beispiel durch den aktiven und stets aktualisierten Einsatz digitaler und technischer Innovation im Unterricht sichergestellt werden.
Das ist keineswegs eine neue Forderung. Die Digitalisierung voranzutreiben ist schließlich in aller Munde. Die Autorin schafft dennoch eine Perspektivierung, die so simpel klingt, dass festgefahrene deutsche Schulen womöglich schon erzürnt ihre „Wie stellen Sie sich das denn vor“-Leitfäden im Glaskasten vorm Lehrerzimmer aushängen: Was wäre denn, wenn wir mit dem (weiter-)arbeiten was wir eh schon haben, anstatt es zu bekämpfen? Warum hören wir nicht auf, die Handys von Schüler:innen als den größten Feind des Unterrichts anzusehen, und nutzen ihren im privaten Umfeld ohnehin schon erlernten Umgang damit? Das ist tatsächlich keine Forderung nach uneingeschränktem Medienkonsum, auch keine nach der Auslagerung von Stoffvermittlung auf Social Media, sondern vielmehr eine gewinnbringende Grundlage modernen Unterrichts. Wäre das Einbinden der privaten Medienwelt von Schüler:innen kein besonderes Moment, das den getakteten Plan der Lehrkraft stört, sondern ein integrativer Bestandteil des Unterrichts, könnten sich beispielsweise solche Situationen zutragen: Eine Bemerkung der Lehrkraft während der Stoffvermittlung erinnert ein Schulkind an ein Video auf der Plattform TikTok, das es zuhause angesehen hat. Der Link dazu erreicht sofort alle Mitschüler:innen, sodass es im Klassenverbund diskutiert und auf das momentane Thema bezogen werden kann. Hasel plädiert dafür, dass solche Situationen nicht als Einschub zwischen den „eigentlichen“ Unterricht angesehen werden sollten, oder gar als Zeitverschwendungen im Lehrplan, sondern genau das ist, wo der Unterricht stattfinde. Schließlich eignen sich Schüler:innen genau so unzählige Prozesse an, die tatsächliche Praxis verlangen: Verbindungen erkennen, Rückschlüsse ziehen, Recherchefähigkeiten optimieren, Inhalte filtern, die Qualität des gefundenen Inhalts bewerten, Medienkompetenz schulen, und fast als würde es nebenbei passieren, den eigentlichen Stoff erlernen.
Damit so eine Art des Lernens funktionieren kann, brauche es ein flexibleres System, das vor allem auch fächerübergreifend fungieren kann. Kommen im Deutschunterricht durch Google-Suchen zum Thema Literaturgeschichte tiefer bohrende Fragen zu spezifischen politischen Ereignissen auf, müsste nicht gesagt werden „Fragt das am besten euren Geschichtslehrer, wir müssen weitermachen“, sondern dann wäre das eben der Weg, den diese Unterrichtsstunde heute geht. Natürlich ist die praktische Durchführbarkeit eines so fluktuierenden Lehrsystems derzeit etwas anzuzweifeln, doch die Autorin liefert mit Erzählungen von finnischen Schulen einige Beispiele, in denen das schon sehr gut zu funktionieren scheint. Auch ein wachsender Fokus auf individualisiertem Lernen ist an dieser Stelle ein wichtiger Impuls, den die Autorin auf den Weg bringt. Ein weiteres Positivbeispiel bringen finnische Schulen im Umgang mit dem Umgehen selbst: „Sozioemotionales Lernen“ ist dort an einigen Schulen ein Pflichtfach. Interessierte finden bei der Zeit eine eindrückliche Leseprobe zu diesem Thema.
Durch das malerische Einbringen zahlreicher Geschichten von ihren Reisen durch die Schulsysteme legt Verena Friederike Hasel offen, dass Schule keineswegs so bleiben muss, wie wir sie kennen und wie sie größtenteils heute immer noch ist – und zeigt, dass Änderungen an bestehenden Systemen keine Einbußen in der Wissensvermittlung bedeuten müssen. Wer schlicht interessiert an der theoretischen Abhandlung bestimmter pädagogischer Konzepte oder wissenschaftlicher Grundlagen ist, ist bei diesem Buch aber vermutlich aus mehreren Gründen fehl am Platz. Erstens finden sich diese Konzepte sehr wohl sowohl in der Theorie als auch praktisch umgesetzt wieder, doch gerade durch diese Natur des Erzählens von der Praxis liest sich das Buch eher wie eine ausgeschmückte Erlebniserzählung als ein Fachlexikon. Zweitens würde die Absicht, Konzepte und Impulse ohne jeden Kontext vorfinden zu wollen, ein bisschen darauf schließen lassen, dass man den Punkt verfehlt hat: Es gibt nach der Message des Buches nämlich keine Blaupause, keinen Plan A, keinen brandneuen jetzt-ist-aber-wirklich-alles-drin-Lehrplan.
Hasel schafft es, nicht nur durch bloße Worte ihre Vision für den Umgang mit Kindern zu vermitteln, sondern bildet mit der Struktur ihres Buches die Verworrenheit all dieser angesprochenen Punkte ab. Man kann die Theorie hinter brillanten finnischen Lehrmethoden nicht vom Ergebnis ihrer praktischen Anwendung trennen, die Art der Wissensvermittlung nicht von der Atmosphäre, die in diesem spezifischen Klassenzimmer herrschte und so erst zu diesem Ergebnis führen konnte, und ebenso wenig ist der Input von Schule und Zuhause trennbar vom späteren Umgang mit allen Herausforderungen des Lebens: „Wie wir jetzt mit unseren Kindern umgehen, entscheidet darüber, wie sie später zurechtkommen; was sie heute lernen, prägt die Welt von morgen“. Hasels Anregungen kann als utopischen Idealismus abstempeln, wer davon überzeugt ist, sein Großvater hätte in der Schule nicht über Emotionen reden müssen und hätte es trotzdem zu etwas gebracht – alle anderen finden hierin den Versuch, Kinder angemessen auf dieses Morgen vorzubereiten, und dafür müssen sie vor allem eins sein: „Krisenfest“.