Spielerisch lernen: Digitale Spiele bringen Kreativität und Motivation ins Klassenzimmer (Quelle: Canva)
Digitale Spiele sind längst mehr als nur ein reiner Zeitvertreib. Sie haben sich zu einem kulturellen Phänomen entwickelt, das nicht nur Geschichten erzählt, sondern auch Generationen verbindet und neue Technologien vorantreibt. Dabei sind Videospiele unglaublich vielfältig: Ob als Unterhaltungsmedium, kreative Ausdrucksform oder innovatives Lehr- und Lernmittel – digitale Spiele sind aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken.
Trotz des enormen Lernpotenzials werden digitale Spiele im Schulunterricht bislang vergleichsweise selten eingesetzt, obwohl sie den Unterricht sinnvoll bereichern können. Woran liegt das? Und wie können Games im Unterricht funktionieren?
Wie schon Friedrich von Schiller in seinem Werk “Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ schrieb: “Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt”. Um die Bedeutung von digitalen Spielen nachvollziehen zu können, lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit.
Die Anfänge digitaler Spiele reichen bis in die späten 1950er Jahre zurück. In den 1960er Jahren boten amerikanische Universitäten technikbegeisterten Studierenden die Möglichkeit, das neue Medium Computer zu erforschen. 1961 entstand dann mit “Spacewar!” eines der ersten interaktiven Computerspiele.
Die späten 1970er und frühen 1980er Jahre gelten als Blütezeit der Videospielgeschichte, in der legendäre Arcade-Spiele Kultstatus erlangten und für Heimkonsolen umgesetzt wurden. 1984 etablierten sich Nintendo und Sega als führende Akteure, geprägt durch Figuren wie “Super Mario”. Ein Meilenstein war 1994 die Einführung von 32-Bit-Konsolen, mit denen Sony mit der Playstation neue Standards setzte. Um die Jahrtausendwende folgten Segas Dreamcast und Playstation 2, gefolgt von Nintendo GameCube und Microsofts Xbox.
Parallel gewann das mobile Spielen an Bedeutung: Mit dem Game Boy (1989), dem Nintendo DS und der PlayStation Portable (ab 2005) wurde der Markt weiter ausgebaut, bis der Nintendo 3DS (2011) und Smartphones neue Maßstäbe setzten. Ab den 2010er Jahren prägten Social Games, Free-to-Play-Modelle und innovative Konsolen wie die Nintendo Switch oder PlayStation VR den Markt. Kreative Spiele wie “Minecraft” und “Journey” bereicherten die Branche, begleitet von einem Wandel hin zu digitalen Gaming-Plattformen und Fortschritten in Virtual Reality.
Videospiele haben sich damit längst als Kulturgut etabliert, vergleichbar mit Musik, Literatur und Film. Aktuellen Statistiken zufolge spielt etwa die Hälfte der deutschen Bevölkerung, nämlich 53 Prozent, gelegentlich Computer- oder Videospiele. Besonders verbreitet ist das Spielen in der Altersgruppe der 16- bis 29-Jährigen, wo über 91 Prozent aktiv sind. Ein erster großer Vorteil von Videospielen besteht also darin, dass Lehrkräfte Kinder und Jugendliche genau dort abholen können, wo sie einen Großteil ihrer Freizeit verbringen, und so unmittelbar an deren Lebenswelt anknüpfen können.
Auch Malte Elson, Psychologe an der Ruhr-Universität Bochum, sieht im Einsatz von Spielen im Unterricht durchaus Potenzial: “Computerspiele sind ein vielseitiges Werkzeug und holen die Schüler in ihrer Lebensrealität ab. Das kann durchaus motivierend wirken”. Zudem eröffnen virtuelle Welten völlig neue Möglichkeiten, komplexe Inhalte oder historische Ereignisse anschaulich darzustellen.
Im Gespräch mit jungen Menschen über ihre digitalen Spiele erfährt man oft nicht nur ihre Lieblingsspiele, sondern auch Einblicke in ihre Interessen, Sorgen, Werte, Ansichten und sozialen Beziehungen. Digitale Spiele sind eng mit ihrer Identitätsbildung verknüpft und bieten jungen Menschen Geschichten, in denen sie ihre persönlichen Themen wie Ängste, Einsamkeit oder Fragen zu Identität, Geschlecht und Körperlichkeit spielerisch und oft gemeinsam mit Freund:innen verarbeiten können. Im Spiel führen sie ihre Avatare durch fremde Welten, gestalten die Spielgeschichte aktiv mit und erleben dadurch Selbstwirksamkeit.
Virtuelle Welten bieten viele Möglichkeiten, die Jugendlichen bei der Identitätsbildung helfen können. Dieser Prozess ist jedoch nicht für alle gleich einfach. Die gesellschaftlichen Anforderungen an Jugendliche – wie die Entwicklung eines positiven Selbstbildes, die Auseinandersetzung mit der Geschlechtsidentität oder die Anpassung an Konsumgewohnheiten – sind das Ergebnis historisch und sozial gewachsener Strukturen. Hier können digitale Spiele ansetzen und zum Beispiel durch interaktive Geschichten, die Herausforderungen und kreative Gestaltungsräume bieten, Jugendlichen einen sicheren Raum geben, um Grenzen auszutesten, sich auszuprobieren und so eigene Perspektiven zu entwickeln, um ihre Identität weiterzuentwickeln.
Digitale Spiele können jedoch auch überfordern oder zur Realitätsflucht führen, weshalb es sinnvoll sein kann, sie in Bildungskontexte einzubinden, um ihre Vorteile gezielt zu nutzen und mögliche Herausforderungen gemeinsam mit den Schüler:innen zu reflektieren. Spiele schaffen Zugang zu den Themen der Jugendlichen, eröffnen Reflexionsräume und fördern die kreative Auseinandersetzung mit Selbst- und Weltbildern sowie den Dialog über gesellschaftliche Normen und Werte. So können laut der Stiftung Digitale Spielekultur, beispielsweise Themen wie Identität sowie Flucht und Vertreibung durch und mit den entsprechenden Videospielen thematisiert werden.
“Game-Based Learning” (spielebasiertes Lernen) fördert ein aktives, praxisnahes und problemlösendes Lernen. Digitale Spiele wecken Neugier und ermöglichen ein immersives Lernerlebnis, bei dem Inhalte spielerisch entdeckt werden. Da Fehler im Spiel normal sind, bieten sie sichere und interaktive Erfahrungsräume zum Ausprobieren.
Kinder und Jugendliche verfügen oft über einen großen Erfahrungsschatz im Umgang mit Spielen und erlernen den technischen Umgang damit spielend leicht. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Inhalten und dem eigenen Spielverhalten bedarf jedoch pädagogischer Unterstützung. In der Schule können Computerspiele als Ausgangspunkt dienen, um gemeinsam über den Umgang mit Medien zu reflektieren und sowohl Potenziale als auch Herausforderungen zu diskutieren. Schüler:innen können dabei ermutigt werden, in eine Expert:innen-Rolle zu schlüpfen. Durch das Teilen ihrer Ansichten und Erfahrungen zum Thema digitale Spiele entsteht ein Raum für Austausch und Reflexion. Lehrkräfte können diesen Dialog nutzen, um gemeinsam über das Mediennutzungsverhalten zu sprechen und die Chancen sowie Risiken von Videospielen zu thematisieren.
So vielversprechend das klingt, der Einsatz von Spielen im Unterricht bringt dennoch eine Reihe an Herausforderungen mit sich: Er erfordert nach wie vor viel Engagement und eine aufwändige Vorbereitung seitens der Lehrkraft.
Zusätzlich fehlt es an didaktischen Begleitmaterialien, die den Einsatz von digitalen Spielen im Unterricht erleichtern. Hier ist jedoch langsam eine Änderung in Sicht: Im Bereich der Open Educational Resources stehen von Pädagog:innen erstellte Materialien zur Verfügung, die bewusst auf Urheberrechte verzichten. Der Lehrer Tobias Hübner beispielsweise integriert regelmäßig Spiele in seinen Unterricht und bietet auf seinem Blog “medienistik.de” kostenlose Materialien und Tools für den Einsatz von Videospielen im Unterricht an. Unterstützung bietet auch das Projekt “Digitale Spielewelten” der Stiftung “Digitale Spielekultur” in Zusammenarbeit mit Spielraum an der TH Köln, das Orientierungshilfen für den Einsatz von Computer- und Videospielen im Unterricht bietet. Auch “Games im Unterricht” bietet Unterrichtskonzepte zu verschiedenen Videospielen an.
Allerdings stehen Schulen bei der Integration von Spielen in den Unterricht vor weiteren Hürden: Neben fehlenden didaktischen Konzepten mangelt es häufig an geeigneter Hardware, ausreichend Geräten für große Klassen oder leistungsstarken Rechnern für grafisch anspruchsvolle Spiele. Probleme wie langsame Internetverbindungen, schlechter WLAN-Empfang und fehlendes IT-Personal zur Unterstützung der Lehrkräfte erschweren die Umsetzung zusätzlich.
Wenn es jedoch gelingt, diese Hürden zu minimieren, können digitale Spiele ihr volles Potenzial entfalten und zu einem wertvollen Bestandteil des Unterrichts werden. Entscheidend ist dabei, die passenden Spiele auszuwählen, die sowohl den Lernzielen als auch den technischen Gegebenheiten entsprechen.
Es ist sinnvoll, zunächst mit Spielen zu arbeiten, die speziell für Lernzwecke entwickelt wurden. Hierfür eignen sich insbesondere Lernspiele (Educational Games) und Serious Games. Während Educational Games dabei helfen, beispielsweise Mathematik oder Vokabeln zu üben, verbinden Serious Games Spielspaß mit der Vermittlung ernsthafter Inhalte.
Mainstream-Spiele hingegen sind in erster Linie auf Unterhaltung ausgerichtet, können aber oft für Game-Based Learning (GBL) eingesetzt werden, auch wenn sie ursprünglich nicht dafür konzipiert wurden. Es ist jedoch ratsam, etwas Erfahrung mit diesen Spielen zu haben oder sich mit den Inhalten vertraut zu machen.
Die kostenlose App “The Unstoppables” thematisiert Behinderung, Inklusion und Barrierefreiheit. Die Spieler:innen lösen mit den vier Held:innen Mai, Jan, Achim und Melissa einen Kriminalfall. Jeder der Charaktere hat eine körperliche, sinnliche oder kognitive Einschränkung. Melissa ist beispielsweise blind und Achim sitzt im Rollstuhl. Das Spiel konzentriert sich jedoch nicht auf diesen Aspekt, sondern thematisiert die einzelnen Talente der Held:innen, um Toleranz und Akzeptanz zu fördern.
Das Spiel eignet sich per se für alle Klassenstufen und Schulformen, da die Geschichte und Spielmechanik leicht verständlich sind. Für Jugendliche könnte die Darstellung und Handlung jedoch als zu einfach oder kindlich empfunden werden.
Die Assassin's Creed-Reihe von Ubisoft zählt zu den bekanntesten und erfolgreichsten Videospielserien. Die Spiele zeichnen sich durch historische Schauplätze aus, wie Paris während der Französischen Revolution (Assassin's Creed Unity) oder London zur Zeit der Industrialisierung (Assassin's Creed Syndicate) aus. Für die Titel Assassin's Creed Origins und Assassin's Creed Odyssey wurde ein spezieller Discovery-Modus entwickelt, der die Spielwelten ohne klassische Gameplay-Elemente wie Kämpfe oder Zeitdruck zugänglich macht. Spieler:innen können frei erkunden, themenspezifische Touren absolvieren und von Charakteren Hintergrundwissen über die dargestellte Epoche erhalten.
Im Discovery-Modus von Origins, der im alten Ägypten spielt, werden beispielsweise Themen wie Landwirtschaft, Kultur und das Alltagsleben dieser Zeit anschaulich vermittelt. Der Modus ist als eigenständiges Bildungsprogramm für den PC verfügbar (19,99 Euro), für Besitzer:innen des Hauptspiels kostenlos und in Deutschland als “Lehrprogramm” eingestuft. Das Spiel eignet sich für den Geschichtsunterricht und kann z.B. für das Themenfeld “Altes Ägypten” eingesetzt werden.
Das Point-and-Click-Adventure “State of Mind”, das beim Deutschen Computerspielpreis 2019 als bestes Serious Game ausgezeichnet wurde, entführt die Spieler:innen in die dystopische Zukunft Berlins im Jahr 2048. Während Ressourcenknappheit, Umweltzerstörung, Krankheiten und steigende Kriminalität die Welt prägen, setzen Regierungen und Konzerne auf technische Lösungen wie humanoide Roboter, Drohnen und umfassende Überwachung. Richard Nolan, ein Journalist, der diesen Entwicklungen kritisch gegenübersteht, erwacht nach einem schweren Unfall ohne Erinnerung an die letzten Tage und muss nicht nur seine Vergangenheit aufdecken, sondern auch seine verschwundene Familie finden.
Das Spiel ist USK 12 und eignet sich ab der 10. Klasse. Da das Spiel Themen wie Transhumanismus, die Rolle der Privatsphäre in einer digitalisierten Gesellschaft, Künstliche Intelligenz, die Auswirkungen eines Überwachungsstaats und den Stellenwert von Menschlichkeit thematisiert, eignet es sich insbesondere für das Diskussionsrunden für das Fach Ethik.
Digitale Spiele sind also weit mehr als ein Unterhaltungsmedium – sie bieten vielfältige Möglichkeiten, den Unterricht innovativ zu bereichern und gesellschaftlich relevante Themen aufzugreifen. Mit der richtigen Herangehensweise und Rahmenbedingungen können sie nicht nur den Unterricht abwechslungsreicher gestalten, sondern auch die Auseinandersetzung mit komplexen Inhalten fördern und den Dialog über Werte, Identität und gesellschaftliche Herausforderungen anregen.