Eva Reiter vom Ganztagsschulverband schreibt über Herausforderungen und Chancen für die Bildung (Quelle: Stefan Malzkorn).
Als im Oktober 2021 das “Gesetz zur ganztägigen Förderung von Kindern im Grundschulalter” (Ganztagsförderungsgesetz - GaFöG) in Kraft trat, war die Erleichterung groß. Doch der Euphorie über die politische Einigung folgte vielerorts schnell Ernüchterung, denn das Papier, auf dem der Bund 3,5 Milliarden Euro an Finanzhilfen in zwei Investitionsprogrammen verspricht, ist geduldig. Man ahnt schnell: Der Teufel steckt im Detail. Denn mit der Umsetzung müssen sich die Länder und Kommunen herumschlagen und ihre Klagen über fehlendes Geld in den Kassen sind bekannt.
Der Ganztag bietet eigentlich vielfältige Chancen: Neue pädagogische Konzepte, die die Eigenständigkeit der Schüler:innen stärken und Angebote, die deutlich über die Vorgaben der Curricula hinausgehen, sind nur zwei solcher Möglichkeiten. Aber nicht nur die Finanzierung stellt ein Problem dar. Damit der Ganztag nicht nur die Funktion des Verwahrens erfüllt, bedarf es einerseits einer grundsätzlichen Veränderung der Lernkultur an ganztägig arbeitenden Schulen hin zu individualisierten, differenzierten, inklusiven, partizipativen, beziehungsorientierten, lernseitigen, nachhaltigen und erweiterten (kooperativen) Bildungssettings. Andererseits erfordert dies qualifizierte, multiprofessionelle Teams, die diese Konzepte umsetzen. Viel zu lange wurde über den Fachkräftemangel in jenen Professionen geklagt, deren Zusammenarbeit gute Ganztagsschulen auszeichnen. Kluge und realisierbare Konzepte dagegen wurden nicht entwickelt. Nahezu unlösbar erscheint nun vielerorts die Suche nach Lehrkräften und pädagogischem Fachpersonal. Mehrere 10.000 Lehrkräfte und bis zu 100.000 pädagogische Fachkräfte werden laut der Bertelsmann Stiftung zusätzlich benötigt. Doch Fachpersonal erfordert eine mehrjährige Qualifizierung, die längst begonnen haben müsste.
Eine gute Ganztagsschule braucht somit zwingend eine bedarfsgerechte Personalausstattung, die den individuellen Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen und zugleich pädagogischen Grundprinzipien (beispielsweise hinsichtlich der Gruppengrößen) entspricht. Dazu gehören sichere Arbeitsverhältnisse, angemessene Entlohnung, ausreichend Zeitkontingente (u.a. für Kooperationszeiten) und Anrechnungsstunden für Lehrkräfte, Fachkräfte und (pädagogische) Mitarbeitende.
Doch die Lösung zum Fachkräftemangel lautet in allen Bundesländern und Kommunen schnell: Quereinsteigende. Keine Frage, dass Quereinsteigende zusätzliche Qualitäten, Erfahrungen, Perspektiven und Blickwinkel einbringen, die ein Team bereichern können und von denen also auch die Kinder profitieren. Dringend notwendig sind aber hier zumindest systematische Fortbildungen in Pädagogik und Didaktik. Quereinsteigende sind eine wunderbare Ergänzung, aber kein Ersatz für hochqualifiziertes Personal in der Ganztagsschule. Die Themen Ganztag und multiprofessionelle Kooperation müssen daher als Querschnittsthemen in der Aus-, Fort- und Weiterbildung aller Professionen und Personengruppen verankert werden.
Gönnen wir uns einen Traum: Wir haben das erforderliche Geld, gut ausgebildetes Personal jeder Profession. Dann endlich können wir uns mit den zentralen Fragen beschäftigen. Wie bieten wir den jungen Menschen die ihnen zustehende gute Bildung? Wie schaffen wir es, trotz extremer sozialer Schieflagen, für mehr Chancengleichheit zu sorgen, von Chancengerechtigkeit gar nicht erst zu reden? Wie also gelingt es uns, Kindern und Jugendlichen Bildung und Erziehung täglich und ganztags zu garantieren? Sicher nicht durch das, was bei der jüngsten Bildungsmesse didacta als Zitat einer Lehrkraft durch die Ausstellungshallen schwebte: “Den Ganztag haben wir outgesourced. Man muss sich ja abgrenzen!”
“So nicht!”, muss man jenen, die so denken, zurufen. Der Ganztag kann gesellschaftliche Entwicklungen begleiten, wo erforderlich auch auffangen. Die Ganztagsschule ist zum Lebensraum der Schüler:innen geworden. Sie übernimmt immer mehr Aufgaben, die einst wie selbstverständlich die Familien leisteten. Der Soziologe Prof. Dr. El-Mafaalani beschreibt es so: “Früher konnte sich Schule auf die aktive Unterstützung der Familien verlassen. Das hat sich gedreht. Heute müssen sich Familien auf die Schulen und den Ganztag verlassen können.” Dieser Wandel gehe einher mit einem vielfach gestiegenen Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund und führe zu einer Superdiversität an unseren Schulen. “Schule befindet sich in einem Transformationsprozess, der alleine durch Lehrkräfte nicht begleitbar ist. Wir brauchen also den Ganztag mit Zeit und Multifunktionalität”, betont er. Und: “Alles, was in der Gesellschaft positiv ist, muss im Ganztag erlebbar sein.”
Die an Ganztagsschulen Tätigen tun ihr Möglichstes, um trotz mangelhafter Rahmenbedingungen den ihnen gestellten Auftrag zu erfüllen. Bildung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und muss daher ganz oben auf der bildungspolitischen Agenda stehen. Dazu bedarf es eines Paradigmenwechsels: während das Bundesministerium für Bildung und Forschung ab 2003 mit dem Slogan “Ganztagsschulen. Zeit für mehr.” für die Vorzüge der Ganztagsschule in der Öffentlichkeit geworben hat, müssen wir uns heute unter dem Schlagwort “Ganztagsschulen? Zeit für mehr” gemeinsam dafür starkmachen, dass Ganztagsschulen auch die notwendigen Ressourcen erhalten. Denn guter Ganztag ist eben nicht nur eine Frage der Haltung, Einstellung und individuellen Bereitschaft.
Aber wir benötigen auch noch mehr (Ganztags-)Schulen, die den Mut haben, eingefahrene Pfade zu verlassen. Schulen, die Ganztagskoordinator:innen schätzen und ihnen die Gelegenheit bieten, multiprofessionelle Teams aufzubauen und Schulentwicklung mit voranzutreiben. Dafür benötigen sie Zeit – Zeit für Planung, Zeit für den Aufbau und die Pflege von Kontakten in der Bildungsregion, Zeit für Aus- und Weiterbildung, Zeit für den Austausch über Konzepte und vor allem – über die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen. Nur dann gelingt der Blick aufs Individuum tatsächlich – und zwar aus der Sicht vieler. Dies alles sind zentrale Aufgaben der Schulgemeinschaft. Für die Bereitstellung der Zeitressourcen muss jedoch die Politik sorgen.
Als Ganztagsschulverband unterstützen wir als Fachverband die Schulen, wo und wann es uns auch immer möglich ist. Angetrieben werden wir alle von der Gewissheit, dass ein guter, qualitativ hochwertiger und an den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen ausgerichteter Ganztag ausschlaggebend für eine gute Bildung künftiger Generationen ist. Hoffen wir, dass unsere Möglichkeiten, diesem Ziel näherzukommen, 2025 entscheidend verbessert werden.
Eva Reiter (OsR) ist als Lehrerin und Ganztagskoordinatorin an der Grund- und Stadtteilschule in Hamburg tätig. Seit 2018 ist sie Bundesvorsitzende des Ganztagsschulverbandes e.V. sowie seit 2016 Landesvorsitzende in Hamburg. Der Ganztagsschulverband setzt sich als Fachverband und Interessenvertretung auf Bundes- und Länderebene für die Etablierung und Weiterentwicklung von ganztägig arbeitenden Schulen in Deutschland ein. Seine Mitglieder:innen sind Schulen, Hochschulen, Akteur:innen aus Bildungspolitik und -verwaltung, Vereine und Verbände, Einzelpersonen aller Professionen sowie am Ganztag Beteiligte und Interessierte. Er bietet Vernetzung, Informationen, Ideen und Beratung.
Wir bedanken uns bei dem Ganztagsschulverband für ihren Beitrag und möchten hinzufügen, dass der Inhalt des Artikels nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wiedergibt.