Jeder Mensch soll die Möglichkeit erhalten, sich umfassend und gleichberechtigt an der Gesellschaft zu beteiligen – so definiert die Antidiskriminierungsstelle des Bundes den Begriff Inklusion. Auch die Vereinten Nationen (UN) legen in der Behindertenrechtskonvention die Rechte von weltweit fast 650 Millionen betroffenen Menschen fest, von Selbstbestimmung bis zur Nicht-Diskriminierung. So heißt es in der Konvention auch, dass “Kinder mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen” ausgeschlossen werden sollen. So toll das erstmal klingt, lässt sich jedoch auch feststellen, dass diesen Idealvorstellungen noch viele Steine im Weg liegen. Für uns stellt sich die Frage: Was genau bedeutet Inklusion im Bildungssystem? Und wie unterscheidet sich die Lage von Schüler:innen mit Behinderung oder Förderbedarf im ländlichen von der im städtischen Raum?
Um allen Menschen die Möglichkeit zu bieten, gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, benötigt es ein inklusives Bildungssystem, in dem Schüler:innen gemeinsam lernen. Dass die deutsche Bildungspolitik diesem Anspruch nicht gerecht wird, zeigt sich in einem Bericht der Bertelsmann-Stiftung, welche den Stand der Inklusion an deutschen Schulen untersucht hat. Von 581.265 Schüler:innen mit Förderbedarf lernten im Schuljahr 2022/23 mit 44,4 Prozent weniger als die Hälfte in Allgemeinen Schulen, während 55,6 Prozent Förderschulen besuchten. Die Exklusionsquote, also der Anteil der Schüler:innen mit Förderbedarf, die an Förderschulen unterrichtet werden, lag in diesem Jahr bei circa 4,2 Prozent. Diese Quote ist seit dem Schuljahr 2008/09 zwar gesunken, jedoch nur minimal.
Der Abbau exklusiver Bildung gestaltet sich in den verschiedenen Bundesländern jedoch unterschiedlich: während die Exklusionsquote in Thüringen zwischen 2008 und 2020 um rund 3,7 Prozentpunkte sank, stieg sie in Rheinland-Pfalz in derselben Zeitspanne um circa 0,6. Zwar haben Eltern von Kindern mit Förderbedarf die Wahl zwischen Förder- und Allgemeinbildender Schule, diese Entscheidung wird jedoch beispielsweise durch “Ressourcenvorbehalte” eingeschränkt. Diese Einschränkungen manifestieren sich häufig auf fachlicher, personeller und sachlicher Ebene und führen dazu, dass elf von sechzehn Bundesländern den Zugang zu einer Allgemeinen Schule für Kinder mit Förderbedarf einschränken. Eine ausführliche Analyse zum Thema Inklusion an deutschen Schulen und der entsprechenden Debatte zum Thema findet ihr hier.
Es lässt sich feststellen: Das deutsche Bildungssystem entwickelt sich zwar in Richtung Inklusion, dieser Fortschritt ist aber schleppend und weiterhin exklusiv. Deshalb sollten die Länder allgemein dafür sorgen, dass Inklusion in Schulen, durch die Integration von Schüler:innen mit Förderbedarf in Allgemeinen Schulen, konsequent(er) durchgezogen wird. Jedoch hört Inklusion nicht bei dem Besuch einer Allgemeinen Schule auf. Auch Themen wie Mobilität, Barrierefreiheit, Förderangebote und der Mangel an sonderpädagogischem Personal im ländlichen Raum müssen beachtet werden, um allen Schüler:innen eine hinreichende, zielführende Teilnahme am schulischen Unterricht zu ermöglichen.
Bereits der Weg zur Schule kann für viele Schüler:innen eine Herausforderung darstellen. 2020 nutzten laut dem Statistischen Bundesamt rund 43,5 Prozent aller Schüler:innen an Allgemeinbildenden Schulen den Personennahverkehr auf ihrem Schulweg. Der Weg in die Schule gestaltet sich für Schüler:innen besonders im ländlichen Raum durch Makel wie unregelmäßige Abfahrten, eingeschränkte Bedienzeiten und mangelhafte Gebietsabdeckung des ÖPNV bereits schwierig. Obwohl der gesamte Öffentliche Personennahverkehr laut Personenbeförderungsgesetz bis 2022 durch eine vollständige Barrierefreiheit allen zugänglich sein sollte, ist dies in vielen Gemeinden nicht die Lebensrealität der Betroffenen. Eine barrierefreie Reise sei “bei den meisten U-Bahnen und Straßenbahnen (...) inzwischen möglich”, so Hartmut Reinberg-Schüller, Experte des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV). “Mehr Modernisierungsbedarf gibt es jedoch bei den Busflotten im ländlichen Raum”, in welchen ein barrierefreier Transport von Schüler:innen und Pendler:innen mit Rollstuhl auf dem Land erschwert wird.
Angesichts des mangelhaften Personennahverkehrs im ländlichen Raum müssen Eltern von Kindern mit Behinderung häufig von alternativen Angeboten Gebrauch machen. Ein jüngst vom Bundessozialgericht bestätigter Fall zeigt das bürokratische Chaos, was viele Eltern von Kindern mit Förderbedarf erleben. Eine junge Schülerin war aufgrund einer körperlichen Beeinträchtigung nicht in der Lage, ihren Schulweg mit dem Fahrrad oder zu Fuß zu erreichen, weshalb sie den Weg zu und von ihrer Schule mit einem Taxi bestreiten musste. Die Gemeinde erstattete der Familie jedoch nur rund 3 Prozent der Fahrtkosten, weshalb der Fall schlussendlich vor dem Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen landete. Mit Erfolg: Die Grundsatzentscheidung hebt hervor, dass schulpflichtige Kinder und Jugendliche, die ihren Schulweg aufgrund einer Behinderung nicht alleine zurücklegen können, Anspruch auf volle oder ergänzende Kostenübernahme durch die Eingliederungshilfe haben. Bisher wurden Eltern meist auf ihre im Schulgesetz festgelegte Pflicht, ihre Kinder zur Schule zu bringen und abzuholen, verwiesen.
In deutschen Schulen fehlt es an Personal: In Baden-Württemberg konnten in der dritten Woche des laufenden Schuljahres nur 30 Prozent der Schulen von einer personellen Vollversorgung sprechen. Zwar lässt sich dieser Trend in zahlreichen Schulen verzeichnen, besonders trifft dies Sonderpädagogische Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ), von denen nur rund 43 Prozent einen Regelbetrieb anbieten (Lehrer-News berichtete). Allgemein haben Schulen im ländlichen Raum massive Schwierigkeiten, Personal für ihre Einrichtung zu gewinnen und viele Stellen bleiben unbesetzt. In Schleswig-Holstein waren im Schuljahr 2023/24 zwar 96 Prozent der sonderpädagogischen Stellen besetzt, ein großer Teil dieser Stellen wird jedoch nicht von ausgebildeten sonderpädagogischem Personal, sondern Vertretungslehrer:innen besetzt. “Das sind also keine ausgebildeten Sonderpädagogen und sie können bestimmte Arbeiten nicht übernehmen, wodurch dann die Belastung der Sonderpädagogen steigt”, heißt es von Hendrik Reimers, Vorsitzender des Landesverbandes Sonderpädagogik. Besonders in den Einzugsgebieten großer Städte ginge viel Personal in die Städte, statt in Schulen im ländlichen Raum zu arbeiten.
Um dem Anspruch der UN-Behindertenkonvention gerechter zu werden, gibt es bundesweit bereits einige Projekte, die versuchen, Schule durch innovative Ansätze inklusiver zu gestalten. Die “Schule ohne Schüler” in Schleswig-Holstein bietet Schüler:innen mit Förderbedarf die Möglichkeit, von einem wohnortnahen und inklusiven Schulplatz sowie sonderpädagogischem Personal in den entsprechenden Schulen zu profitieren. Fast 50 Sonderpädagog:innen des Förderzentrums Schleswig-Kropp arbeiten mit 320 Schüler:innen an 23 verschiedenen Regelschulen in der Region. Lars Krackert, Schulleiter des Förderzentrums, sieht das Konzept als notwendig: “Gerade im ländlichen Raum, wo es sehr kleine Schulen gibt, würde viel an fachlicher Expertise verloren gehen, wenn nicht dieser große Pool an Spezialistinnen und Spezialisten da wäre”. Für ihren Einsatz gewann das Förderzentrum 2014 sogar den Jakob Muth-Preis für inklusive Schulen. Wie genau Inklusion in Schulen gestaltet werden kann, um Chancengerechtigkeit zu fördern und welche Gründe diese schleppende Entwicklung hat, hat uns Friedo Scharf von Inklusion Digital in einem lesenswerten Interview erzählt.
Die Gründe für den schleppenden Fortschritt in Sachen Inklusion seien vielfältig, so die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Niedersachsen. “Es mangelt nach wie vor an der Bereitstellung ausreichender finanzieller Mittel, personeller Ressourcen, an Zeit, an wissenschaftlicher Begleitung und letztlich am Willen, die inklusive Bildung und somit die verbrieften Menschenrechte umzusetzen”, so Landesvorsitzender Stefan Störmer. Es lässt sich also feststellen: In Sachen Inklusion im ländlichen sowie städtischen Raum in Deutschland ist noch Luft nach oben. Der ländliche Raum bringt dabei jedoch bestimmte Herausforderungen mit sich, welche inklusive Bildung abbremsen können. Besonders prägnant sind dabei der Fachkräftemangel im Bereich der Sonderpädadogik und die oftmals verbesserungsbedürftige Barrierefreiheit in und auf dem Weg zu den Schulen.