“Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen”: Alltagskompetenzen als Schlüssel zur Lebensbewältigung

Ein Foto von unserer Interviewpartnerin Christina Singer. Sie ist vor einem grün-gelben Hintergrund in einem fabrnefrohen Kleid zu sehen.

Christine Singer ist Landesbäuerin bei den Bayerischen Landfrauen, die Teil des Bayerischen Bauernverbandes sind. (Quelle: BBV)

Schulen stehen vor der Herausforderung, junge Menschen nicht nur akademisch zu fordern und fördern, sondern auch auf ihre individuellen Alltagsrealitäten und die Probleme von morgen vorzubereiten. Die Diskussion um ihre Rolle  hat sich von der reinen Wissensvermittlung hin zur Vorbereitung auf ein erfülltes und eigenverantwortliches Leben verschoben. Angesichts der schnelllebigen und komplexen Welt von heute fordern immer wieder Stimmen eine stärkere Betonung lebenspraktischer Kompetenzen im Bildungssystem. Wie können Schulen sicherstellen, dass ihre Absolvent:innen nicht nur akademisch gut gewappnet sind, sondern auch die Fähigkeiten besitzen, um persönliche, finanzielle und gesundheitliche Herausforderungen erfolgreich zu meistern?

Die Idee, Alltagskompetenzen wie Ernährung, Haushaltsführung oder finanzielle Bildung systematisch in den Schulunterricht zu integrieren, ist nicht neu. Bereits seit 2012 setzen sich die bayerischen Landfrauen intensiv dafür ein, dass Schüler:innen in Bayern nicht nur theoretisches Wissen, sondern auch praktische Fähigkeiten vermittelt bekommen, die sie im täglichen Leben benötigen. Ihr Einsatz wurde teilweise bereits belohnt: Die Landfrauen stehen im Austausch mit Kultusministerin Anna Stolz (Freie Wähler) und seit dem Schuljahr 20/21 gibt es an bayerischen Schulen Projektwochen zu Alltagskompetenzen. Doch das reicht den Landfrauen noch nicht. Sie fordern mehr – ein eigenständiges Schulfach. 

Christine Singer bekleidet seit 2012 das Amt der Bezirksbäuerin in Oberbayern und ist seit 2022 bayerische Landesbäuerin. Als ausgebildete Hauswirtschaftsmeisterin mit Fortbildungen in Ernährung, Gartenbau und als “Erlebnisbäuerin” bringt sie umfassende Expertise im Bereich der Landwirtschaft und Hauswirtschaft mit. Neben ihrer langjährigen politischen Tätigkeit als Gemeinde- und Kreisrätin ist sie in verschiedenen Ausschüssen und Beiräten aktiv, darunter im Rundfunkrat des Bayerischen Rundfunks. Seit zwölf Jahren engagieren sich die Landfrauen dafür, Alltagskompetenzen in die bayerischen Schulen zu bringen. Im folgenden Interview mit Lehrer News beleuchtet Christine Singer, welche Beweggründe hinter der Forderung nach diesem Fach stehen und wie sie die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen wie zunehmende Komplexität im Alltag und Verlust traditioneller Familienwerte adressieren möchten. Dabei reagiert sie auch auf kritische Fragen zur Realisierbarkeit des neuen Fachs in einem bereits vollen Lehrplan und stellt konkrete Maßnahmen vor, um die Nachhaltigkeit der vermittelten Kompetenzen im Bildungssystem zu gewährleisten.

Lehrer News: Seit 2012 sprechen Sie sich für ein Schulfach “Alltagskompetenz” an bayerischen allgemeinbildenden Schulen aus. Was hat die Landfrauen ursprünglich dazu bewegt, sich für ein solches Unterrichtsfach einzusetzen?

Singer: Das Thema Alltagskompetenzen beschäftigt uns schon seit vielen Jahren, sodass wir 2012 eine Unterschriftenaktion zum Schulfach „Alltagskompetenzen“ sehr erfolgreich durchführten. Denn wir haben festgestellt, dass hauswirtschaftliche Kenntnisse nicht mehr selbstverständlich im Elternhaus vermittelt werden, wie dies früher der Fall war und der Lernort Familie an Bedeutung verloren hat. Außerdem wird das Leben zunehmend komplexer. Eigenverantwortung ist in der Lebensgestaltung und Daseinssicherung zunehmend gefragt. Das geht aus unserer Sicht nicht ohne Alltagskompetenzen. 

Ein weiterer Aspekt für diese Forderung war, dass mangelnde Alltagskompetenzen nicht nur für das Individuum weitreichende Folgen haben, sondern für die gesamte Gesellschaft. Dies zeigt sich z.B. an folgenden Problemen: ernährungsmitbedingte Krankheiten nehmen zu, das Verarmungsrisiko durch unzureichende Vorsorge, Ver- oder Überschuldung von Privathaushalten steigt, Menschen sind mit den Anforderungen, die Beruf, Familie und Haushalt an sie stellen überfordert. Ohne Alltagskompetenzen kann die generative Sorgearbeit von der Wiege bis zur Bahre nicht geleistet werden.

Lehrer News: Die Lehrpläne sind bereits mehr als voll und gleichzeitig werden immer wieder neue Fächer vorgeschlagen. Ist ein zusätzliches Unterrichtsfach Alltagskompetenz realistisch? Und wo würden Sie stattdessen kürzen bzw. welches Fach ersetzen?

Singer: Ob ein zusätzliches Unterrichtsfach realistisch ist, hängt auch von dessen Ausgestaltung an. Wir sind sehr schnell im Dialog mit Lehrkräften darauf gekommen, dass ein einstündiges Unterrichtsfach einmal pro Woche nicht zielführend ist, um die gewünschten Kompetenzen zu vermitteln. Es geht um die Bündelung und Vernetzung teilweise bereits vermittelter Kompetenzen und das Einbringen aktueller Aspekte wie Digitalisierung. Unsere Gesellschaft ändert sich und deshalb müssen auch die Lehrpläne kontinuierlich überarbeitet werden, wenn Schule relevant bleiben will.

Lehrer News: Auch in Bayern herrscht Lehrermangel. Welche konkreten Maßnahmen schlagen Sie vor, um den Lehrermangel zu adressieren, wenn ein weiteres Pflichtfach eingeführt wird?

Singer: Alltagskompetenzen müssen nicht nur durch Lehrkräfte vermittelt werden. Externe Fachkräfte können alltagsrelevante Inhalte aus ihrer eigenen Erfahrung weitergeben und den Blick auf bestimmte Themen erweitern. Das bringt Abwechslung in den Unterrichtsalltag und zahlt auf den alten Satz ein „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir“. Ein Beispiel: Es ist eine Bereicherung für jede Schülerin und jeden Schüler, wenn sie sieht, wo unsere Lebensmittel herkommen und wie sie erzeugt werden. Diese Erfahrung können Schülerinnen und Schüler machen, wenn sie an einem Vormittag statt in der Schule auf einem Bauernhof Unterricht haben.

Lehrer News: Wie möchten Sie sicherstellen, dass die vermittelten Kompetenzen nachhaltig im Bildungssystem verankert werden?

Singer: Genau deshalb haben wir ein Schulfach gefordert. Es reicht aus unserer Sicht eben nicht aus, Ernährungs- und Verbraucherthemen beim Klassenausflug anzusprechen. Alltagskompetenzen müssen in jeder Jahrgangsstufe vermittelt werden. Dafür braucht es ein Curriculum, das sich durch alle Schuljahre zieht und altersgerecht die Themen aufgreift. Es braucht Lehrpersonal, das entsprechend geschult ist und durch zeitliche Freiräume die Möglichkeit hat, externe Fachexperten zu gewinnen, die den Unterricht mit ihrer Praxiserfahrung ergänzen. Und es braucht Vorbilder in der Schule: Das, was zum Thema Ernährung im Unterricht vermittelt wird, muss mit dem, was in der Schulkantine angeboten wird, zusammenpassen.

Lehrer News: Simone Fleischmann, die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV) steht der Einführung des Fachs kritisch gegenüber, die Definition von Alltagskompetenzen sei zudem unklar. Braucht es so ein Fach überhaupt? 

Singer: Vor der Einführung von Alltagskompetenzen als Unterrichtsgegenstand im Jahr 2014 hat man mit verschiedenen Partnern am Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung in Bayern überlegt, welche Themen im Rahmen der Alltagskompetenzen aufgegriffen werden sollen und fünf Handlungsfelder definiert: Gesundheit, Ernährung, Haushaltsführung, selbstbestimmtes Verbraucherverhalten und Umweltverhalten. Bevor die Projektwoche „Alltagskompetenzen – Schule fürs Leben“ in Bayern eingeführt wurde, hat man aufgrund der wachsenden Bedeutung von Digitalisierung und Medien im Alltag ein sechstes Themenfeld hinzugefügt: Digital handeln. Dies zeigt, dass Alltagskompetenzen nichts starres sind, sondern sich ständig weiterentwickeln. Das ist aus unserer Sicht positiv zu sehen.

Lehrer News: Kritiker:innen könnten argumentieren, dass Alltagskompetenzen schwer messbar und bewertbar sind. Wie planen Sie, die Überprüfbarkeit und Bewertung der in diesem Fach vermittelten Kompetenzen sicherzustellen?

Singer: Wir haben uns mit dem Kultusministerium darauf verständigt, dass Alltagskompetenzen nicht einer Benotung unterliegen. Das würde den Alltagskompetenzen nicht gerecht werden. Stattdessen sollen jede Schülerin und jeder Schüler für die durchlaufenen Projektwochen Zertifikate erhalten. In einer immer bunter werdenden Gesellschaft mit Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und unterschiedlichen familiären Hintergründen kann die Vermittlung von Alltagskompetenzen einen Beitrag zu mehr Chancengerechtigkeit leisten. 

Lehrer News: Vielen Dank für das Gespräch!

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