"Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt": Wie sieht das Bildungssystem in Indien aus?

eine Gruppe von indischen Frauen in unterschiedlichen Sari

Indien zählt aufgrund der zahlreichen Bevölkerung mit zum größten Bildungssystem der Welt. Doch sozioökonomische Unterschiede machen auch nicht vor der Bildung halt. (Quelle: Pexels)  

Indien ist eines der bevölkerungsreichsten Länder der Welt – und hat damit auch eines der größten Bildungssysteme. Bekannt für die kulturelle Vergangenheit von Kunst, Literatur, Wissenschaft und Technologie bietet Indien eine Vielzahl an unterschiedlich interessanten Bereichen. Doch unter dieser Vielfalt verbirgt sich ein komplexes Bildungssystem, welches auch die sozioökonomischen Probleme des Landes widerspiegelt. Doch wie kann man sich das Bildungssystem in Indien vorstellen und welche Auswirkungen hat die Bildung auf den jeweiligen Status?

Die indische Bildung unter der Hand der ehemaligen britischen Kolonialmacht 

Bereits im 18. Jahrhundert wollte der indische Historiker und Denker Gandhis, Dharampal, die vorkoloniale Bildung verändern. Seine Dokumentationen zu Kolonialregierungen konzentrierten sich auf die Bereiche Bildung, Landwirtschaft, Technologie und Kunst. Diese historischen Forschungen lieferten Belege über einheimische Bildungseinrichtungen in den Präsidentschaften Bombay, Bengal, Madras und Punjab. Hier besuchen rund 30 Prozent der Kinder im Alter von 6 bis 15 Jahren täglich eine Bildungseinrichtung. Im Jahr 1818 kam es zum Fall des Marathreiches und somit gleichzeitig zu einer britischen Besatzung und Herrschaft. Im Jahr 1835 wurde der “English Education Act" in Indien verabschiedet. Englisch wurde zur offiziellen Unterrichtssprache an allen Schulen und Hochschulen. Einige Schulen unterrichteten den Lehrplan in den Landessprachen mit Englisch als Zweitsprache. Das britische Bildungssystem etablierte sich in den 1820er Jahren. Allerdings wurden einheimische und ländliche Bildungseinrichtungen durch die Gesetzesänderung vernachlässigt, was zur Folge hatte, dass nur ein kleiner Teil der indischen Oberschicht ausgebildet wurde. Die britische Bildungspolitik förderte dadurch die steigende soziale Ungleichheit und sorgte dafür, dass in indischen Dörfern die Bildung nicht weiter ausgebaut wurde. Der Zutritt zur Bildung wurde auch in der Mittelschicht weitgehend blockiert. Christliche Missionsschulen wurden gegründet, die ebenfalls einen erheblichen Einfluss auf die Gestaltung des englischen Bildungssystems hatten.

Entwicklungen und Fortschritte seit 1947

Im Jahr 1947 kam es durch Gandhi zur Unabhängigkeit Indiens. Die indische Regierung hatte demnach Programme gefördert, um die Ungleichheit auch im Bildungsbereich zu verringern. Die niedrige Alphabetisierungsrate sollte in ländlichen, aber auch städtischen Gebieten bekämpft werden. Ein einheitliches Bildungssystem sollte durch den ersten Bildungsminister, Maulana Abul Kalam Azad, durchgesetzt werden. Im Jahr 1961 wurde von der Unionsregierung eine autonome Organisation “National Council of Educational Research and Training“ (NCERT) gegründet, die die Entwicklung hochwertiger wissenschaftlicher Bildungseinrichtungen fördern sollte.

Im Jahr 2019 hat die indische Regierung einen Reformentwurf für eine neue Bildungspolitik veröffentlicht. Dabei wurde die Reduzierung und Änderung des Lehrplaninhaltes diskutiert, der von nun an grundlegendes Lernen, kritisches Denken und ganzheitliches Wissen fördern sollte. Eine Überarbeitung des Lehrplans und deren pädagogische Struktur wurde außerdem detaillierter betrachtet. Fokus dabei war der Ausbau der kognitiven Entwicklungen der Kinder in Indien. Die Politik zielt mit dem Entwurf darauf ab, Vorschulbildung universell zu machen und einen besonderen Wert darauf zu legen, bis 2025 grundlegende Lese- und Rechenfähigkeiten in der Grundschule und den darauf folgenden Bildungseinrichtungen zu erreichen. Doch wie genau sieht die Struktur des indischen Bildungssystems aus?

Die Struktur des Bildungssystems

Das Bildungssystem ist nach dem Vorbild der ehemaligen britischen Kolonialmacht aufgebaut. Das  Vier-Stufen-Modell der jeweiligen Bildungseinrichtung setzt sich bis in die heutige Zeit durch. Angefangen wird, ähnlich wie in westlichen Ländern, mit der Grundschule. Kinder von 6 bis 10 Jahren besuchen die Grundschule 8 Jahre lang, die teilweise bis zur 5. oder 6. Klasse angeboten wird. Ziel dabei ist es, grundlegende Lese- und Rechenfähigkeiten sowie Basiskenntnisse unterschiedlicher Fächer zu vermitteln. Die nächste Stufe ist die Sekundarschulbildung bzw. Mittelschule. Diese geht von der 6. Klasse bis zur 10. oder 12. Klasse. Dabei wird der jeweilige Schwerpunkt der einzelnen Fächer erweitert und ein breiterer Lehrplan, welcher Sprachen, Naturwissenschaften, Sozialkunde, Mathematik und Kunst umfasst, wird angeboten. Die meisten Schulen in Indien können allerdings aufgrund von Budgetbeschränkungen keine Flexibilität innerhalb des Lehrplans durchsetzen. Nach Abschluss der mittleren Sekundarschulbildung kann auch eine höhere Sekundarschulbildung  besucht werden. Dabei können Schüler:innen sich häufig auf ein bestimmtes Fach spezialisieren. Die Fachbereiche sind neben Naturwissenschaften auch Handel und Geisteswissenschaften. Die nächste und letzte Stufe ist die Hochschulbildung. Diese bietet Bachelor-, Master- und Doktorabschlüsse für Studierende an. Indien verfügt über ein umfangreiches Netzwerk an Institutionen und Hochschulen weltweit, sodass die akademischen Abschlüsse auch in anderen Ländern anerkannt werden können.

Indien verfügt über das zweitgrößte Bildungssystem der Welt, mit mehr als einer Milliarde Einwohnern. Die Verwaltung von 35 Bundesstaaten und Territorien liegt dabei in den Händen der jeweiligen Schul- und Wissenschaftsbehörden, die dem Bildungsministerium Indiens unterstellt sind. Im Jahr 2005 wurde erstmals ein zentrales Gesetz zum Recht auf Bildung umformuliert. 2009 wurde das Recht auf kostenlose und verpflichtende Schulbildung gesetzlich erweitert. Ab 2010 wurde das Gesetz für ganz Indien beschlossen, welches allerdings immer noch ausbaufähig ist.

Herausforderungen im indischen Schulalltag

Staatliche Schulen können aufgrund der hohen Schüler:innen-Anzahl oft nicht die gewünschte Qualität bieten. Privatschulen, die vom Schulgeld finanziert werden, bieten zwar eine Alternative, tragen jedoch zur Vertiefung der sozialen Ungleichheit  bei. Sie bieten oft eine bessere Bildung, jedoch sind die Schulbeiträge teuer und für viele Menschen unerschwinglich. Benachteiligte Gruppen haben dadurch weniger Chancen auf eine gute Bildung. Es besteht immer noch ein Mangel an fundierten und modernen Lehrkräfteausbildungen sowie eine finanzielle und materielle Ausstattung der Schulen. Aufgrund der schnell wachsenden Bevölkerungsrate in Indien sitzen mehr als die Hälfte der Klassen mit knapp 50 bis 80 Schüler:innen unterschiedlicher Jahrgangsstufen zusammen. In ärmeren Unionsstaaten erscheinen fast 40 Prozent der Lehrer:innen nicht regelmäßig zum Dienst, da die Förderung des Sekundarschulbereiches und der darauffolgenden qualifizierenden Berufsausbildung nicht genug ausgebaut ist. Angesichts der schnell wachsenden Wirtschaft ist eine qualifizierte Berufsausbildung jedoch von entscheidender Bedeutung. Eine Folge der mangelnden Berufsausbildung sind Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung.

Mindestens 7 Millionen Kinder erhalten in Indien wenig bis keine Schulbildung, meist wird nicht einmal die Grundschule beendet. Ein Grund dafür könnte der fehlende Zugang zu qualitativ hochwertiger Bildung sein. Gerade in ländlichen Gebieten sind Schulen oft unterbesetzt und schlecht ausgestattet. Aber auch Faktoren wie Armut und Kinderarbeit spielen eine entscheidende Rolle. Trotz des Verbots der Kinderarbeit ist es aufgrund wirtschaftlicher Ungleichheiten und sozialer Bedingungen schwer durchzusetzen. Auch die enorme Ungleichheit zwischen Stadt und Land verdeutlicht die großen Unterschiede. Der Zugang zu angemessenen Bildung ist gerade für Randgruppen eher schwierig zu erreichen. Die Folge davon spiegelt sich in Lese- und Schreibfähigkeiten wider. Gerade mal 76 Prozent der Gesamtbevölkerung Indiens können lesen und schreiben. Die Alphabetisierungsrate tritt mehrheitlich in ökonomisch schwachen Gruppen sowie bei Mädchen und Frauen auf.

Das unausgewogene Geschlechterverhältnis wird im ländlichen Raum noch deutlicher. Die Anzahl der Kinder, die nie zur Schule gegangen sind, liegt bei knapp 100 Millionen. Mädchen und Frauen haben in Indien im patriarchalen System immer noch einen niedrigeren Status und weniger Privilegien als Jungen und Männer. Meist liegt der Fokus von Mädchen und Frauen nicht auf der Bildung, sondern auf Haushalt, Kinderbetreuung und Familienfürsorge. Der Anteil der gebildeten Frauen lag unter der britischen Herrschaft bis zur Unabhängigkeit Indiens 1947 gerade einmal zwischen 2 und 6 Prozent. Im Jahr 1981 konnte der Anteil auf knapp 29 Prozent angestiegen werden. Vor kurzem wurde von der Regierung die sogenannte “Saaksahr Bharat Mission for female Alphabetization“ ins Leben gerufen. Ziel dieser Mission ist es, die Analphabetenrate bei Frauen auf die Hälfte der derzeitigen Niveaus zu senken. Die Bildung der Frauen beeinflusst die Lebensstandards im Land. Erhalten Frauen schlechtere Bildungen, so hat dies negative Auswirkungen wie ein geringeres Einkommen, eine schlechtere Ernährung und folglich schlechtere Lebensbedingungen von Kindern.

Auch die Infrastruktur der einzelnen Bildungseinrichtungen weisen Mängel auf. In vielen indischen Schulen sind kaum geeignete Klassenzimmer vorhanden. Schränke zur Aufbewahrung von Büchern und Unterrichtsmaterialien, sowie Waschräume und Trinkwasser sind nicht ausreichend oder fehlen ganz. Der veraltete Lehrplan kommt hinter den schnell ändernden Anforderungen des Arbeitsmarktes und technologischen Fortschritten kaum hinterher. Gerade in Zeiten der Digitalisierung ist es in indischen Schulen kaum möglich, eine entsprechende Ausstattung zur Verfügung zu stellen. Das Bildungssystem in Indien wird oft dafür kritisiert, dass der Fokus eher auf das Auswendiglernen gelegt wird, anstatt eine gezielte Problemlösung anzustreben. Fast alle Vorschulen haben kaum einen Lehrplan, in dem Kreativität in den Einrichtungen gefördert wird, da dies eher als Form der Unterhaltung betrachtet wird. Auch während der britischen Kolonialzeit wurde sich eher auf wissenschaftliche, universelle und moralische Ziele konzentriert, anstatt soziale und kulturelle Bildungsfaktoren auszubauen.

Welche Veränderungen sind für das Bildungssystem geplant?

Um den Anforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden, wurde ein Ansatz einer gänzlichen Umgestaltung des Bildungswesens vorgestellt. Die indische Regierung hat 2020 die Nationale Bildungspolitik (NEP) verabschiedet. Dies ersetzt die vorherige nationale Bildungspolitik von 1986 und würde einen enormen Fortschritt für Indien Bildungssystems bedeuten. Die NEP ist eine umfassende Umgestaltung des indischen Bildungssystems, welches die Bildung zugänglicher, gerechter und integrativer machen soll. Eine neue Bildungsstruktur soll entstehen. Dabei wird die “10 + 2“-Struktur durch das ”5+3+3+4“-Modell ersetzt. Das bedeutet, dass Kinder nun 5 Jahre die Grundschule besuchen, 3 Jahre eine Mittelschule, 3 Jahre eine Oberschule und anschließend 4 Jahre in einer weiterführenden Schule verbringen. Schüler:innen soll beigebracht werden, selbstständig zu denken und Probleme und Aufgaben kreativ zu lösen. Gerade für den späteren akademischen und beruflichen Bereich kann diese Förderung von Vorteil sein. Bereits in jungen Jahren sollen die Kernkompetenzen des Lesens, Schreibens und Rechnens vermittelt werden. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der frühkindlichen Bildung. Schüler:innen sollen stärker in das Bildungssystem integriert und nicht in getrennten Silos unterrichtet werden. In Zeiten der Digitalisierung legt die NEP auch Wert auf eine ausreichende digitale Bildung. Schüler:innen sollen lernen, wie sie Technologie zum Lernen und zur jeweiligen Problemlösung von Aufgaben verwenden können. Des Weiteren spielt die Vorbereitung auf das berufliche Lernen eine zentrale Rolle. Schüler:innen sollen auch dabei die Möglichkeit bekommen, Fähigkeiten für das spätere Berufsleben zu erwerben.

Insgesamt weist die nähere Betrachtung des Bildungssystems in Indien auf, dass viele Unterschiede zu finden sind. Trotz des Schulsystems der ehemaligen britischen Kolonialmacht, kommt es immer wieder zu sozialen Ungleichheiten. Aufgrund der hohen Anzahl an Schüler:innen und der fehlenden Lehrkräfte kann die gewünschte Qualität von staatlichen Schulen meist nicht ausgebaut werden. Rund 7 Millionen Kinder und Jugendliche erhalten keine Schulbildung, meist wird nicht einmal die Grundschule beendet. Mädchen und Frauen bekommen keinen ausreichenden Zugang zur Bildung, da sie im indischen patriarchalen System einen immer noch niedrigen Status haben als Jungen und Männer. Demnach ist die Alphabetisierung, besonders im ländlichen Raum Indiens, ein großes Thema. Lesen, Schreiben und Rechnen zählen eigentlich zu den Kernkompetenzen, laut Lehrplan spielt das Auswendiglernen eher eine zentrale Rolle. Um den Anforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden, wurde von der Nationalen Bildungspolitik (NEP) Veränderungen gefordert, um das Bildungssystem zugänglicher, gerechter und integrativer zu gestalten. 

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