Wann immer es um Sexualpädagogik geht, ist der richtige Umgang bei der Aufklärungsarbeit und Inhalt der Informationsvermittlung stark umstritten. Verständlicherweise, denn es handelt sich um ein hochsensibles Thema, das Schutzbefohlene betrifft. Daher ist ein Diskurs zwischen Eltern, Lehrer:innen, Schulsozialarbeiter:innen, Schülervertreter, Pädagogen und Mediziner sowie eine kritische Auseinandersetzung mit Handlungsempfehlung äußerst wichtig. Lehrer-News möchte euch mit diesem Artikel einen kurzen Überblick über den aktuellen Stand der Debatte geben.
Sexualpädagogik ist im deutschsprachigen Raum weder ein geschützter Begriff noch eine geschützte Berufsbezeichnung, d.h. jeder, der eine Zusatzausbildung hat, darf seine Arbeit auch als sexualpädagogisch bezeichnen. Sie geht weiter als der Sexualkundeunterricht, da er nicht nur grundlegende Informationen und Wissen vermitteln, sondern den Schüler:innen auch Basiskompetenzen näherbringen möchte, die einer selbstbestimmten Sexualität in Verantwortung verhelfen sollen.
In einer Umgebung, wo eine frühe Konfrontation mit sexualisierten Medien und Inhalten durch Film und Internet möglich ist, ist eine souveräne Haltung von Bildungseinrichtungen gefragt, welche in Anbetracht der gesellschaftlichen Veränderungen, Schüler:innen unterstützend, informierend und aufklärend beisteht. Zudem hat der Schutz gegen Missbrauch und Gewalt von Kindern und Jugendlichen höchste Priorität, weshalb sich die Sexualpädagogik auch als Präventionsmaßnahme sieht.
„Sexualpädagogik ist ein bildungspolitischer Auftrag vom Schuleintritt bis zum Schulaustritt, der Kinder und Jugendliche dabei unterstützen soll, eine positive Haltung zu ihrer Sexualität und zu ihrer Geschlechtlichkeit zu entwickeln damit sie selbstbestimmt und verantwortungsvoll mit sich aber auch mit anderen umgehen können“ heißt es in der Moderation der Podiumsdiskussion „Reizthema Sexualpädagogik: Kompetenzvermittlung oder Übergriff“ vom April 2022. Mit an der Podiumsdiskussion beteiligt waren Dr. Olaf Kapella – tätig am Österreichischen Institut für Familienforschung und Mitgestalter der WHO-Standards für die Sexualaufklärung in Europa, Dr. Christian Spaemann – Facharzt für Psychiatrie, Suha Dejmek – Initiatorin von kindgerecht.at, Dr. Peter Stippl – Professor und Präsident des Österreichischen Bundesverband für Psychotherapie und Leni Kesselstatt – Initiatorin von sexualerziehung.at.
In den Impulsvorträgen wurden zwei unterschiedliche Positionen vertreten. Dr. Olaf Kapella erläutert zu Anfang seiner Präsentation die Definition von Sexualpädagogik, dass diese nicht auf die reine „Genitalität“ zu beschränken sei sondern vielmehr um menschliche Grundbedürfnisse handele, welches u.a. mit Nähe, Geborgenheit, Vertrauen und Offenheit zu tun habe. Auch das Erkennen und Benennen von Gefühlen sowie das Setzen und Respektieren von Grenzen stand im Fokus, welche in der Sexualpädagogik „möglichst früh grundzulegen und aufrechtzuhalten“ ist. Des Weiteren werden auch Prävention und Schutz, Kompetenzen (emotional, körperlich, kommunikativ), Gesundheit, Wohlbefinden und Würde, sexuelle Entwicklung, respektvolle soziale und sexuelle Beziehungen sowie Rechte thematisiert. Dazu seien Vertrauens- und Bezugspersonen außerhalb der Familie äußerst wichtig für Kinder, da Gewalt und Missbrauch ebenfalls oft innerhalb des Familienkreises stattfinden. Durch die Bereitstellung von weiteren Ansprechstellen und Beratungsstellen erfülle die Sozialpädagogik dahingehend eben auch ihre Schutzfunktion.
„Pädagogik ist anfällig für Ideologien, ist eine Spielwiese für Ideologien“, eröffnete Dr. Spaemann seinen Vortrag. Ihm zufolge hat die „Sexualpädagogik der Vielfalt“ – der sogenannte Mainstream der heutigen Sexualpädagogik – zwei Hintergründe. Zum einen würde sie aus der „neo-emanzipatorischen Sexualpädagogik“ der 80er Jahre stammen, wofür im deutschsprachigen Raum Helmut Kentler und im englischsprachigen Raum Herbert Marcuse als Verfechter galten. Zum anderen kommt sie aus der Gendertheorie, welche aus den 90er Jahren stammt und zurück zum Neostrukturalismus in der Philosophie (Jacques Derrida, Judith Butler) führt. In vielen Beispielen, welche er daraufhin aufbringt, sieht er eine äußerst problematische Entwicklung der derzeitigen Sexualpädagogik, wo eine “erwachsene Vorstellung von Sexualität in die Kinderwelt hineingetragen wird”, auch “moralische Indoktrination" und “gesellschaftspolitische Annahmen” werden in diesem Zusammenhang erwähnt.
In einer hitzigen Diskussion im Anschluss an die Vorträge tauschen sich die Expert:innen aus. Da vor allem der von Spaemann erwähnte Helmut Kentler mit seinen sogenannten Kentler-Experimenten als Skandal und Missbrauchsfall noch heute vom Berliner Senat und zahlreichen anderen Akteuren aus der Wissenschaft und Politik aufgearbeitet wird, ist der Titel der Veranstaltung gerade passend. Auch praxisnahe Berichte bezüglich negativen Erfahrungen mit externen Vereinen zur Unterstützung des schulischen Unterrichts und zu den WHO-Standards wurden Stellung bezogen.
Für viele der heutigen Politiker:innen, Bildungseinrichtungen, Gesundheitsexpert:innen und Fachkräfte, die in den Bereichen Bildung und Gesundheit tätig sind, gelten die Informationen der WHO-Standards als Anleitung für eine gesamtheitliche Sexualaufklärung. Diese werden in der weiteren Arbeit mit Minderjährigen als Hilfestellung verwendet. Die WHO-Standards für die Sexualaufklärung in Europa sind als Grundlage für die gesamte europäische Region der WHO (mit aktuell 53 Mitgliedsstaaten) zu verstehen, welches sich zum Ziel „die positive Haltung zu Sexualität und der Gewalt- und Missbrauchsprävention“ gesetzt hat. Entworfen wurden die Standards 2008 vom Regionalbüro der WHO in Zusammenarbeit mit der deutschen Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Sie gibt auf 54 Seiten Richtlinien und Empfehlungen dazu, was Kinder und Jugendliche in verschiedenen Alterskategorien lernen und können sollten.
Fraglich ist jedoch, ob die Standards den heutigen Anforderungen gerecht werden. Dr. Stephanie Merckens – österreichische Rechtsanwältin und Leiterin des Bereichs Politik im Institut für Ehe und Familie (IEF), betrachtet dies kritisch. Ihren Aussagen zufolge waren bereits bei der Erstellung der Standards zum einen nur 9 der 53 Mitgliedsstaaten vertreten, zum anderen wären nur Pauschalaussagen ohne Quellenangaben getroffen worden. Als Hauptkritikpunkt sieht sie die zu frühe Konfrontation mit Themen zur Sexualität, die behandelt werden, noch bevor die Schüler:innen sich in der Entwicklungsphase befinden. Dadurch würden gerade die Schamgrenzen, welche Merckens zufolge als natürliche Schutzfunktion zu verstehen sind, im Gegenteil eher abgebaut als, dass die Kinder und Jugendlichen vor Missbrauch geschützt werden.
Prof.Dr. Karla Etschenberg – Diplom-Pädagogin und Lehrerin an Grund- und Hauptschule im Fach Biologie verfasste 2019 eine umfangreiche Stellungnahme zu den Standards, in welche sie unter den Punkten “Intransparenz”, “Fachlich unzeitgemäße Sichtweise/Akzentuierungen”, und “Sonstiges” sowohl fragwürdige Quellen, Interpretation kindlicher Verhaltensweisen und Ausführung überholter Modelle im Detail kritisiert.
Auch Mitverfasser Dr. Olaf Kapella betont, dass die WHO-Standards nun bereits als 11 Jahre alt sind und möchte sich daher ebenfalls nicht auf alle Aussagen stützen. Er sehe jedoch keine geplante Neubewertung oder Überarbeitung der Broschüre seitens der WHO in naher Zukunft kommen.
Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages dokumentierten zuletzt 2016 die unterschiedlichen Konzeptionen und Praxen der Bundesländer bezüglich der Sexualerziehung in Schulen. Dieser ging aus einer öffentlichen Debatte über „Sexuelle Vielfalt und ihre Behandlung im Unterricht im Grundschulbereich“ und „ab welchem Alter sich Schüler:innen mit Fragen der Sexualität in den Schulen beschäftigen sollen“ hervor.
Die BZgA bietet zudem im Auftrag des Schwangerschaftskonfliktgesetzes (SchKG) auf ihrer Webseite kostenlos Infomaterialien zur Sexualaufklärung und zur Familienplanung an. Auch eine Liste an Internetangeboten ist vorhanden, darunter:
Die Angebote sind zum Teil für Schüler:innen, aber auch für registrierte Lehrkräfte gedacht. Erkenntnisse aus Forschungsprojekten und Studien bis hin zu Foren zu Themen wie Liebe, Partnerschaft, Sexualität und Verhütung ist alles dabei.
Als Fazit kann gesagt werden, dass die Kritik sowie die Sorge der Eltern in einigen Fällen durchaus notwendig und berechtigt sind. Über, das Sexualpädagogik kindgerecht, altersgerecht und entwicklungssensibel sein sollte, scheinen sich die Parteien allerdings einig zu sein. Wie geht ihr mit den Themen der Sexualaufklärung im Unterricht um? Welche Materialien verwendet ihr? Was würdet ihr euch diesbezüglich wünschen? Teilt uns eure Meinung gerne in den Kommentaren mit.