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Im Rahmen unserer Themenwoche Didaktik wollen wir uns heute mit dem Bildungsideal der Aufklärung auseinandersetzen. Bildungsideale wie dieses haben heutzutage nicht den besten Ruf; scheinen irrelevant. In der auf Hochglanz polierten Welt des Digitalen fristen sie ein tristes Dasein auf verstaubten Regalen.
Dabei haben sie gerade wegen der Digitalisierung eine neu gewonnene Relevanz, der wir uns heute auch widmen wollen. Die umfassenden Veränderungen durch die zunehmende Vernetztheit der Welt, werden auch Schüler:innen vor Herausforderungen stellen. Wenn man sich also im schulischen Kontext damit beschäftigt, sollte man zumindest eine Vorstellung davon haben, warum man dies tut und wie.
Doch zunächst muss geklärt werden, was ein Bildungsideal überhaupt ist, welches wir beherzigen sollten und warum sie vielleicht nicht ganz zu Unrecht einen mittelmäßigen Ruf haben.
Wie der Name schon nahelegt, sind Ideale niemals vollständig Wirklichkeit, sondern stets die Formulierung einer Wunschvorstellung. Sie sagen nicht, was Bildung ist, sondern was und wie sie sein sollte und welchen Zweck sie haben sollte. Diese Frage wird seit Menschengedenken kontrovers diskutiert und es verwundert nicht, dass gerade in Utopien, die ja einen Wunschort darstellen, Bildung und Wissensvermittlung zum Thema gemacht werden.
Schon in Platons „Der Staat“ nimmt die Bildung der Menschen einen großen Raum ein. Alle Bürger:innen des Staates sollen gebildet werden. Insbesondere die “Wächter”, also die Armee, soll umfassend gebildet sein, um ihrer Aufgabe charakterlich gewachsen zu sein. Weltberühmt ist natürlich das Höhlengleichnis, das aufzeigen soll, wie sich der Mensch durch Erkenntnis und Bildung selbst befreien kann (hier findet ihr ein Video von TED-Ed zum Höhlengleichnis).
Auch in anderen berühmten Utopien hat Bildung einen hohen Stellenwert. In Thomas Morus „Utopia“, das dem Genre seinen Namen gab, ist das Besuchen von Vorlesungen eine beliebte Freizeitaktivität – eine Vorstellung, die angesichts von Anwesenheitspflichten und dem Jagen nach ECTS-Punkten an Universitäten fast schon komisch anmutet.
Im „Sonnenstaat“ von Tommaso Capanella ist Bildung gar so wichtig, dass die gesamte Architektur der Stadt darauf ausgerichtet ist, das umfassende Wissen der Bewohner:innen darzustellen, denen außerdem regelmäßig aus einer Art Bibel der Wissenschaft, dem Buch „Weisheit“, vorgelesen wird. Francis Bacon wiederum erhebt in „Neu-Atlantis“ das Streben nach Wissen gar zur Staatsräson und die Wissenschaft ist Leuchtturm seines fiktiven Königreiches.
Es ist also oftmals im Fiktionalen, dass Wissen und Bildung gelobt und bejubelt wird. Utopien sind dabei auch Kritiken an bestehenden Verhältnissen. Damit haben Bildungsideale auch eine negative Qualität, sie befürworten nicht nur eine bestimmte Art der Erziehung und Bildung, sondern entstehen oft als Gegenentwürfe zu den jeweils herrschenden Bildungssystemen, zielen darauf ab, diese zu kritisieren.
Dieser kleine Exkurs verrät aber noch nichts über den Inhalt dieser Ideale oder dem wirkmächtigsten aller Bildungsideale: dem der Aufklärung. Denn dieses ist es, dass auch heutzutage von Bedeutung sein sollte, aber diese zunehmend zu verlieren scheint. Was also ist das Bildungsideal der Aufklärung?
Die Aufklärung des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts stellte den Menschen, das Individuum, in den Mittelpunkt. Aufgeklärt zu sein heißt, selbstbestimmt handeln zu können und nicht abhängig zu sein von Autoritäten. „Aufklärung ist“, wie es bei Kant bekanntermaßen heißt, „der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“. “Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen”, ist daher der Leitspruch der Aufklärung.
Bildung ist dabei zum einen der Schlüssel zum Erlangen der Mündigkeit, der Fähigkeit selbstverantwortlich in Freiheit und Selbstbestimmung in der Welt zu Handeln.
Zum anderen aber hat Bildung in diesem Verständnis einen Wert an sich, der nicht unmittelbar an ökonomische Nützlichkeiten gebunden ist. Bis heute prägt insbesondere die Konzeption des preußischen Reformers Wilhelm von Humboldt diese Vorstellung. Im Humboldtschen Bildungsideal zielt der “allgemeine Schulunterricht auf den Menschen überhaupt”. Allen Menschen soll unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder Klasse die gleiche Bildung zur Verfügung stehen. Daher setzte sich Humboldt für ein Bildungssystem ein, das ohne Ansehen der Herkunft, Schüler:innen fördern sollte und forderte die Unabhängigkeit der Wissenschaft.
Ziel jeder Bildung ist für Humboldt die “Anregung aller Kräfte des Menschen, damit diese sich über die Aneignung der Welt entfalten und zu einer sich selbst bestimmenden Individualität und Persönlichkeit zu führen”. Auch gebe es “gewisse Kenntnisse, die allgemein sein müssen, und noch mehr eine gewisse Bildung der Gesinnungen und des Charakters, die keinem fehlen darf”. Wer in so einem Sinne zum aufgeklärten Menschen gebildet wird – glaubte Humboldt – werde keine Probleme haben, auch im Berufsleben Erfolg zu haben.
Daher schade es beispielsweise dem Tischler nicht, ein wenig Griechisch gelernt zu haben und dem Gelehrten nicht, ein wenig tischlern zu können, meinte Humboldt. Von dieser Vorstellung scheint jedoch abgesehen von der Einheit von Forschung und Lehre wenig übrig geblieben zu sein. Warum eigentlich?
Das liegt unter anderem daran, dass Schule und Bildung immer mehr unter Gesichtspunkten der Wirtschaft und der Selbstoptimierung gesehen werden. Immer mehr wird darauf abgezielt, Schüler:innen zu kompetenten Arbeitskräften auszubilden, die die Bedürfnisse der Wirtschaft ideal befriedigen können.
Während an den Universitäten vom universalistischen Bildungsanspruch nicht mehr viel übrig ist, da Studierende durch Regelstudienzeiten und Creditpointsystemen immer mehr eingeengt werden, lernen schon Kindergartenkinder Fremdsprachen.
Letzteres nicht, um Kindern die Schönheit von Sprachen näher zu bringen, sondern wohl eher weil es ein “Asset” auf dem Arbeitsmarkt darstellt, wenn man mehrsprachig ist. Auch die Schulen selbst sind Teil dieser Entwicklung. Sinnbildlich stehen dafür die immer wieder vorgebrachten Forderungen, Schüler:innen sollen lieber lernen, wie man Versicherungen abschließt oder Steuererklärungen abgibt, statt, um ein beliebtes Beispiel zu nennen, Gedichte zu analysieren.
Nun ist es selbstverständlich, dass Schulen ihre Schüler:innen gut auf das zukünftige (Berufs-)Leben vorbereiten sollen und es nicht prinzipiell problematisch ist, wenn eine Vierjährige französisch lernt oder man im Sachkundeunterricht über Bewerbungen spricht. Doch die zunehmende Fokussierung auf diese Aspekte führt dazu, dass alles nicht unmittelbar Verwertbare aus Schule und Unterricht zu verschwinden droht.
Natürlich ist es im Grunde müßig, Schüler:innen Literatur oder Geschichte zu vermitteln. Ebenso müßig mag es sein, Kindern etwas über die Entstehung von Sternen beizubringen, wenn dies keinen unmittelbaren Bezug zu ihrem künftigen Berufsleben hat. Aber sollte nicht auch in der Schule “Müßiges” vermittelt werden, das vielleicht einen eigenen Wert hat? Eine demokratische Gesellschaft sollte aus mündige, selbstständige Bürger:innen mit vielfältigen Interessen und lebhafter Kreativität bestehen und die bekommt sie nicht, wenn sie ihren Kindern hauptsächlich beibringt, wie man Formulare ausfüllt oder Steuern spart.
Allerdings müssen sich jene, die sich auf humanistische Prinzipien berufen, auch an die eigene Nase fassen. Zu oft versteckt sich dahinter elitäre Vorstellungen, die der Gesellschaft und damit den Schüler:innen von oben herab verordnen wollen, welche Bücher zu lesen und welche Musik zu hören seien. Es verwundert nicht, dass der Ruf des aufklärerischen Ideals leidet, wenn es in den Dienst der eigenen Selbstherrlichkeit a la Marcel Reich-Ranicki oder Denis Scheck gestellt wird. Und auch die, die es gut meinen, beharren zu oft zu sehr auf dem Alten, zitieren stets Goethe und Schiller, haben keine Ahnung von den tatsächlichen Interessen und Wünschen der Schüler:innen und wittern bei allem Neuen gleich Kulturverfall. Doch die vielfältigen neuen Ausdrucksformen, die durch die Digitalisierung ihren Weg in die breite Öffentlichkeit finden, sind nicht per se schlecht, natürlich nicht.
Das führt schließlich zum Zustand der Digitalisierung des Unterrichts. Auch hier dominieren Forderungen, die darauf abzielen, Schüler:innen zu kompetenten Arbeitskräften der Zukunft zu machen. Doch sollte sich die Digitalisierung der Schulen tatsächlich darin erschöpfen, zu lehren, wie man ein bestimmtes digitales Werkzeug einsetzt? Deuten wir die aufklärerischen Ideal für die Gegenwart neu, könnte man sagen: Nein, die Schüler:innen selbst müssen im Mittelpunkt des Digitalen stehen. Es muss darum gehen, ihnen die Mittel an die Hand zu geben, um auch im Digitalen mündig agieren zu können.
So meint etwa Dr. Harald Gapski, Forschungsleiter des Grimme-Instituts: “Seit der Aufklärung ist Bildung eng mit Prinzipien der Vernunft, Mündigkeit und Emanzipation verbunden”. Er fordert, dass “aufklärerische und nicht-zweckfunktionale Bildungsziele in ihren erkenntnisbezogenen, ethisch-moralischen und politischen Ausprägungen” verstärkt Eingang in die Schule finden sollten, um so kritische Bildung zu fördern.
Anders ausgedrückt: Schule muss es primär ermöglichen, dass Schüler:innen mündige, souveräne Bürger:innen in der digitalen Welt werden können. Es spricht nichts dagegen, Kindern und Jugendlichen beispielsweise das Programmieren beizubringen, aber es sollte gefragt werden, zu welchem Zweck das geschieht. Geht es hauptsächlich darum, den großen Tech-Konzernen Arbeitskräfte bereitzustellen oder darum Schüler:innen die Möglichkeit zu gewähren, informiert über die Anwendung neuer Technologien nachzudenken? Schüler:innen sollten (sowie alle Menschen) im Sinne Kants als Zweck an sich behandelt werden, nicht als bloßes Mittel.
Es sollten Räume geschaffen werden, in denen kritisch und reflektiert über die Anwendung künstlicher Intelligenz, Big Data etc. nachgedacht werden kann. Um Humboldts Beispiel des Tischlers und Gelehrten zu aktualisieren: Es schadet dem künftigen Journalisten nicht, etwas vom Programmieren zu verstehen und es hilft der künftigen Programmiererin, sich einmal mit Moralphilosophie beschäftigt zu haben.
Auch das humanistische Element des aufklärerischen Bildungsverständnis kann selbstverständlich erhalten bleiben. Es spricht nichts dagegen, die Kreativität, die in Computerspielen, digitaler Kunst und digitalen Communities steckt, im Deutsch- oder Kunstunterricht aufgeschlossen zu thematisieren.
Bedeutender ist aber der Wunsch, Bildung allen gleichberechtigt zukommen lassen zu wollen. Das war zu Humboldts Lebzeiten nicht der Fall und ist es auch heute nicht. Die Digitalisierung bietet die Möglichkeit, mit neuen Methoden etwas gegen die andauernde Bildungsungleichheit in Deutschland zu tun. Dies aber ist kein Selbstläufer, sondern verlangt ein ehrliches Bekenntnis zu diesem Ideal.
Solche Vorstellungen mögen utopisch klingen, aber es sind ja eben die Utopien, in denen idealistische Bildungskonzepte ihren Platz haben.