Celsy Dehnert erzählt in "Das Gefühl für Armut" ihre Geschichte stellvertretend für die 14,2 Millionen Menschen in Deutschland, die armutsbetroffen sind. (Quelle: Tassja Rother)
“Ich war euer Geld nicht wert.” Celsy Dehnert erzählt in “Das Gefühl von Armut” eindrucksvoll, wie es ist, als Kind in einer Gesellschaft aufzuwachsen, die wegschaut. Ein Buch, das nicht nur berührt, sondern zeigt, warum Armut in Deutschland ein strukturelles Problem bleibt.
“Meine Eltern haben jedes Klischee bedient, das die Gesellschaft armutsbetroffener Eltern gegenüber hat: Sie haben geraucht, und es gab jeden Abend mehr als ein Feierabendbier.” Ein harter Einstieg, den Celsy Dehnert wählt, um über ihre von Armut geprägte Kindheit in ihrem Buch “Das Gefühl von Armut” zu schreiben. In ihrem Buch erzählt sie, dass ihre Eltern zwar Geld für mehrere Computer und Konsolen ausgaben, für schöne Kindergeburtstage und Ausflüge hingegen nicht. Das trifft. Bereits nach den ersten Kapiteln wird die Ungerechtigkeit für die Lesenden unerträglich. Es wird deutlich, wie ungeliebt sich dieses Kind fühlen muss. Weder Dehnerts eigene Eltern sind bereit, ihr zugegebenermaßen weniges Geld für die Tochter auszugeben, noch unterstützen sie andere Erwachsene in ihrem Leben, wie Lehrkräfte oder Sachbearbeiter:innen beim Jugendamt, in angemessener Weise.
Celsy Dehnert beschreibt einen der prägendsten Tage ihrer Teenagerjahre. Eine Klassenkameradin fragte sie im Schulbus, ob sie ihre Klamotten im Ranzen hätte. Denn was Dehnert nicht wusste: Alle fuhren an diesem Tag auf Klassenfahrt, nur sie nicht. Als sie an diesem Tag mit ihrer Klassenlehrerin im Büro des Schulleiters saß, bietet dieser den Eltern am Telefon an, dass der Förderverein die Kosten für die Klassenfahrt übernehmen könnte, doch die Eltern lehnen ab. Ihren Freund:innen erzählt sie nicht, warum sie nicht auf Klassenfahrt mitkommt. “Die Wahrheit war einfach zu beschämend: Ich war zu arm, um mit auf Klassenfahrt zu fahren”, schreibt sie. Ob und wie das Thema zu Hause besprochen wurde? Sie erinnert sich nicht. Rückblickend reflektiert sie, ob sie das Thema Klassenfahrt vielleicht verdrängt hatte, weil die Scham nicht teilnehmen zu können, zu groß war. Wieder einmal bleibt bei ihr das Gefühl: Ich war euer Geld nicht wert. Denn dieses Gefühl hatte Dehnert, die heute als Journalistin und Autorin arbeitet, oft in ihrem Leben.
Wenn Dehnert von den Armutserfahrungen in ihrer Kindheit und Jugend schreibt, fragt man sich zwangsläufig: Warum hat ihr denn keiner geholfen? Hat denn keiner in der Schule mitbekommen, wie es um das Mädchen steht? Als Dehnert als Erwachsene ihre Grundschullehrerin wieder trifft, erzählt diese, dass sie einmal an Weihnachten allen Schüler:innen ein kleines Geschenk nach Hause brachte. Allen, bis auf Celsy. Ihre Eltern nahmen das Geschenk wohl an, gaben es aber niemals an ihre Tochter weiter. Ihre schwierige Situation im Elternhaus war also in der Schule bekannt. Trotzdem half niemand oder konnte Hilfe gegen den Willen der Eltern durchsetzen.
Marken-Stifte, Marken-Hefte, teurer Tuschkasten – dass diese Forderungen der Lehrkräfte für sie nicht erfüllbar waren und damit das Stigma arm zu sein für die ganze Klasse sichtbar macht, musste die Schülerin mit sich selbst ausmachen. Lehrkräfte wünschen sich diese Markenprodukte, weil es die Qualität der Schularbeiten, zum Beispiel die Farbintensität der Bilder im Kunstunterricht, verbessert. Für armutsbetroffene Familien bedeutet das aber oft, sich zwischen genügend Essen und guten Stiften zu entscheiden. Und es geht weiter mit Arbeitsheften und Büchern, deren Kosten im Rahmen der Lernmittelfreiheit nur noch in fünf Bundesländern übernommen werden, wie Betzold in seinem Blog berichtet. Mit 15 Jahren kommt Dehnert in eine Pflegefamilie. Aber auch hier und von der Sachbearbeiterin im Jugendamt erfährt sie Klassismus, also Diskriminierung wegen ihrer Armut (Lehrer News berichtete). Denn anders als ihre Eltern erfüllt Dehnert nicht das Klischee. Sie ist fleißig und intelligent, lernt viel und macht allen Umständen zum Trotz ihr Abitur. Das führt aber auch dazu, dass ihre Probleme nicht ernst genommen werden. Wie schlecht kann es ihr ergangen sein, wenn sie das alles schafft?
Dehnert erzählt ihre Lebensgeschichte stellvertretend für die 14,2 Millionen Menschen in Deutschland, die laut Paritätischem Gesamtverband als armutsbetroffen gelten, ein Fünftel davon sind Kinder. Denn wie die Autorin ausführt, hat schulischer Erfolg häufig wenig mit Intelligenz und Begabung zu tun, sondern damit, welche Ressourcen die Eltern mitbringen. Das zeige zum Beispiel der IGLU-Bericht zur Lesekompetenz von Grundschulkindern. Die Anekdoten über Armuts- und Klassismus-Erfahrungen in ihrem Leben veranschaulichen die Situation, machen es greifbar. Eine Stärke des Buchs ist, dass die Autorin immer wieder den Wechsel in die Vogelperspektive schafft. Mit Daten, Zahlen und Studien belegt sie, dass es sich hier nicht um ihr persönliches Schicksal, um das Versagen der Erwachsenen und Institutionen in ihrer Kindheit geht, sondern dass es sich um ein strukturelles Problem handelt, das alle armutsbetroffenen Menschen erleben. Dehnert schafft es dabei auch den Bezug zu anderen Diskriminierungserfahrungen zu ziehen, beispielsweise wenn Menschen arm sind und einen migrantischen Hintergrund haben oder eine Frau sind.
Kleidung, Ausdrucksweise, Freizeitgestaltung – all das zeigt im Alltag, ob jemand arm ist. Denn nur wer es sich leisten kann, folgt modischen Trends, geht reiten und fliegt in den Urlaub. Dass dem so ist und dass diese sichtbaren Zeichen bei Schüler:innen zum Ausschluss der Klassengemeinschaft bis hin zum Mobbing führen können, sagt einem schon der gesunde Menschenverstand. Dehnert stellt aber auch hier einen wissenschaftlichen Bezug her, in dem sie auf die Erkenntnisse des Soziologen Pierre Bourdieu eingeht, der in seinem Werk “Die feinen Unterschiede” erläuterte, dass verschiedene Klassen in unserer Gesellschaft unterschiedliche Arten von Kultur pflegen. Die Autorin schafft es, dass wissenschaftliche Einschübe und kulturwissenschaftliche Fakten wie dieser nie langweilen, sondern immer wieder aufzeigen: “Am Ende ist es egal, was du kannst, wenn du die falsche Herkunftsfamilie hast.” Denn wer durch sein Aussehen und seine Wortwahl einmal gezeigt hat, dass er zur falschen gesellschaftlichen Klasse gehört, wird in höheren Klassen immer als fremd und anders wahrgenommen. Aufstieg und Integration bleiben so vielen verwehrt.
Dabei schwingt in jeder Zeile des Buches mit, dass Dehnert ihren lockeren, zugänglichen Schreibstil im Studium, ihrer jahrelangen Erfahrung als Redakteurin und auf Instagram erarbeitet hat, denn der Text ist menschlich, nahbar, wirkt an manchen Stellen wie eine von den guten Instastories, die gleichzeitig unterhalten und zum Nachdenken anregen. Es verwundert kaum, dass die durch ihre feministische und gesellschaftskritische Arbeit im Internet bekannt gewordenen Journalistinnen Teresa Bücker und Mareice Kaiser die Autorin Celsy Dehnert bestärkt haben, dieses Buch zu schreiben, ergänzt Dehnert doch offensichtlich deren Arbeit. Denn die Scham abzulegen und die Perspektive einer armutsbetroffenen Frau öffentlich zu machen, ist ein wichtiger Beitrag zum aktuellen feministischen Diskurs. Nur so kann die Diskriminierung sichtbar gemacht, eigene Anteile reflektiert und dagegen angegangen werden.
Dass Armut oft ein weiblich gelesenes Gesicht hat, zeigt sich vor allem auch im weiteren Verlauf des Buches, in dem Dehnert davon berichtet, dass ihre Armutserfahrungen mit ihrer Volljährigkeit nicht vorbei waren. Arm studieren, arm Mutter werden, sich arm beruflich selbstständig machen beschreibt die Lebenswirklichkeit vieler Frauen in Deutschland. Immer wieder zeigt die Autorin exemplarisch an ihrem Leben, wie wenig Hilfe sie von Institutionen und Gesellschaft erhalten hat. Zu geringes Bafög, KFW-Kredit mit damals 9 Prozent Zinsen, Zuzahlungen bei Zahnproblemen und Krebsbehandlungen, zu wenig Kinderbetreuung und das teure Schul- und Sozialleben der Kinder erschweren es, gegen die Spirale von Armut und Schulden anzukämpfen. Es scheint fast, als wäre Armut vererbbar. Wenig verwunderlich plädiert Dehnert in “Das Gefühl von Armut” dafür, Bildung für alle kostenlos zu machen und eine Kindergrundsicherung einzuführen, um Kinderarmut in Deutschland zu beenden.
Solange wir unserer Gesellschaft Kinderarmut nicht stoppen können, bleibt natürlich die Frage, wie wir Kindern in dieser andauernden Notsituation helfen können. Gerade Lehrkräfte spielen im Frühwarn- und Hilfesystem für Kinder eine entscheidende Rolle. Oft sind sie nach den Eltern die nächsten Bezugspersonen, die mit den Kindern am meisten Zeit verbringen. Damit geht eine große Verantwortung, aber auch viele gute Möglichkeiten Kindern zu helfen einher. Elterngespräche, Unterstützung vom Förderverein, Informationen zu Bildung & Teilhabe – vielen armutsbetroffenen Familien kann bei finanziellen Herausforderungen im Alltag geholfen werden. Wenn die Eltern jede Unterstützung verweigern, können Lehrkräfte im nächsten Schritt die Schulsozialarbeit hinzuziehen. Am wichtigsten ist es nicht, die Scham überhand gewinnen zu lassen und offen und respektvoll über und vor allem mit armutsbetroffenen Kindern und Familien über ihre Herausforderungen zu sprechen. Deshalb an euch die Fragen: Wie geht ihr damit um, wenn ihr feststellt, dass sich ein Kind in eurer Klasse Markenstifte und Klassenfahrt nicht leisten kann? Sprecht ihr mit eurer Klasse über Armut? Welche Unterstützung kann man Eltern und Kindern in dieser Situation noch anbieten?