Wie und was lernen Schüler:innen in Iran? (Quelle: Canva)
Im Volksmund gelten Iraner:innen oft als gebildet, und das kommt nicht von ungefähr: Bildung hat in Iran einen hohen Stellenwert. Viele Iraner:innen besitzen einen Hochschulabschluss oder streben ihn an, im regionalen Vergleich ist die Alphabetisierungsrate des Landes hoch und das Land ist bekannt dafür, dass auch Frauen schon früh Zugang zu Bildung hatten.
In den letzten zwei Jahren, nach dem Tod von Jina Mahsa Amini und dem von vielen Iraner:innen gefochtenen Kampf gegen das repressive autoritäre Regime, waren Schüler:innen, Student:innen und Lehrkräfte maßgeblich an den Protestwellen im Land beteiligt. Sie kämpften für die kollektiv formulierten Ziele “Frauen, Leben, Freiheit” und lehnten sich gleichzeitig gegen die unterdrückenden Grundsätze des Staates auf, die tief im Bildungssystem verankert sind. Spätestens dieser Umstand wirft Fragen auf: Trotz des hohen Stellenwerts von Bildung scheinen Aufklärung und Gerechtigkeit nicht im Sinne des Regimes zu sein. Wie lernen Schüler:innen in Iran dann? Und vor allem: Wer lernt wie – und was?
Der Iran mit etwa 89 Millionen Einwohner:innen ist eine ethnisch und kulturell vielfältige Gesellschaft. Während die größte ethnische Bevölkerungsgruppe aus Perser:innen besteht, die schätzungsweise etwa 50 bis 70 Prozent ausmachen, leben ethnische Minderheiten wie Aserbaidschaner:innen, Kurd:innen, Lur:innen, Araber:innen und Belutsch:innen vor allem in den Grenzregionen des Landes. Darüber hinaus halten sich in Iran mehrere Millionen afghanische Geflüchtete auf. Die Bevölkerung ist überwiegend muslimischen Glaubens. 90 bis 95 Prozent der Bevölkerung gehören der offiziellen Glaubensrichtung des Landes, dem schiitischen Islam, an. Trotz dieser auf den ersten Blick homogenen religiösen Prägung, gibt es auch kleinere nicht-muslimische Gruppen wie Christ:innen, Personen jüdischen Glaubens und Zoroastrier:innen.
Durch viele Bevölkerungsgruppen hindurch wird Bildung in Iran als äußerst wichtig und wertvoll angesehen. Ein hoher Bildungsgrad gilt als Schlüssel zum sozialen Aufstieg und ist eng mit dem Streben nach beruflichem Erfolg und Status verknüpft. Die Alphabetisierungsrate liegt bei Männern bei rund 92 Prozent, 85 Prozent bei Frauen und bei Jugendlichen bei rund 99 Prozent (Stand 2022) und ist damit im Vergleich zu den benachbarten Ländern, wie Afghanistan oder Irak, hoch. Ein möglicher Grund für die gesellschaftliche Bedeutung von Bildung liegt in der staatlichen Gewichtung: Die Islamische Republik betrachtet das Bildungssystem seit ihrer Gründung als ein zentrales Instrument zur Festigung der nationalen Souveränität. Dementsprechend steht die Bildung in Iran unter Einfluss und starker Kontrolle des iranischen Regimes.
Und das Regime steht besonders für die Vermittlung von konservativen schiitischen Werten: Das politische System der Islamischen Republik kombiniert republikanische Elemente mit einer starken theokratischen Komponente und gilt als autoritär. An der Spitze des Staates stehen der oberste Machthaber und das religiöse Oberhaupt, Ali Chamenei, der die Kontrolle über die wichtigsten Machtbereiche des Staates innehat. Trotz Wahlen und gewählten Institutionen bleiben der Machthaber oder von ihm ins Amt gehobene Personen häufig die letzte Entscheidungsinstanz. Durch den unterdrückenden Kurs des Regimes führt diese Struktur zu Spannungen und Ungleichheit in der Bevölkerung. Menschenrechte, insbesondere die Meinungs- und Pressefreiheit sowie die Rechte von Frauen und Minderheiten, werden stark eingeschränkt.
Das iranische Bildungssystem ist zentralstaatlich organisiert. So könnte man meinen, dass im Gegensatz zum föderalen Staat Deutschland eine gänzlich einheitliche Schulbildung gewährleistet werden kann. Die offiziellen Bildungswege ähneln denen in Deutschland: Sie sind in zwei Hauptbereiche unterteilt, die „K-12“-Bildung (Kindergarten bis zur 12. Schulstufe, also Primar- und Sekundarbildung) sowie die höhere Bildung. Ab einem Alter von fünf bis sechs Jahren können Kinder eine Vorschule oder einen Kindergarten besuchen, was etwa auf die Hälfte der Kinder in diesem Alter zutrifft.
Mit sechs Jahren beginnt die verpflichtende sechsjährige Grundschule (Dabestân). Im Anschluss daran folgt die Sekundarstufe (Dabirestân), die in zwei Abschnitte gegliedert ist. Die ersten drei Jahre, auch als Sekundarstufe I bezeichnet, sind für alle Schüler:innen zwischen zwölf und 15 Jahren verpflichtend. Danach besteht die Möglichkeit, in die Oberstufe (obere Sekundarstufe) zu wechseln, die nicht verpflichtend ist. Hier können die Schüler:innen zwischen verschiedenen Schwerpunkten wählen, darunter theoretische, technische oder handwerkliche Bildung. Die Sekundarstufe endet mit einer Reifeprüfung. Wer ein Hochschulstudium anstrebt, muss zusätzlich die nationale Hochschulaufnahmeprüfung (Konkur) gut bestehen, um an einer Universität angenommen zu werden, denn die Studienplätze sind begrenzt.
In Iran sind zwei Ministerien für die Curricula und Bildungsstrukturen und somit auch für die Vermittlung traditioneller schiitischer Werte im Land zuständig. Das Bildungsministerium entscheidet über Primar- und Sekundarbildung, während das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Technik die höhere Bildung verwaltet.
In der Grundschule werden Farsi (Lesen, Schreiben und Diktat), Mathematik, Naturwissenschaften, Religionspädagogik, Sozialkunde, Kunst und Sport sowie Koranstudium und Religionspädagogik unterrichtet. Ab der sechsten Klasse kommen auch die Fächer Forschen, Technik und Berufswesen hinzu. Zusätzlich zu den Fächern der Primarstufe erhalten Schüler:innen in der unteren Sekundarstufe Unterricht in einer zweiten Sprache ihrer Wahl. Sie können zwischen Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch oder Russisch auswählen. In der oberen Sekundarstufe entscheiden sich die Schüler:innen zwischen drei Ausbildungszweigen: der akademischen, technischen und beruflichen Ausbildung.
Eine der prägnantesten Änderungen seit dem Ausruf der Islamischen Republik im Jahr 1979 ist die Geschlechtertrennung in allen Bildungseinrichtungen. Schulen sind dazu verpflichtet, islamische Werte zu fördern, was sich neben der Trennung von Mädchen und Jungen insbesondere im Lehrplan widerspiegelt. Seit der Revolution von 1979 wurde das Koranstudium als Unterrichtsfach eingeführt und der Anteil des Religionsunterrichts erhöht. Auch in nicht religiösen Fächern wird zunehmend Religion behandelt, sodass im Jahr 2006 etwa ein Viertel der Primar- und Sekundarschulzeit religiösen Themen gewidmet waren.
Durch alle Schulstufen zieht sich zudem die Vermittlung eines rückständigen Frauenbildes, das dem weiblichen Geschlecht primär die Rollen der Hausfrau, Ehefrau und Mutter zuschreibt, in denen sie weiterhin für wichtige Entscheidungen die Zustimmung ihres Mannes benötigen, dem wiederum die Rolle des Hauptverdieners zugeschrieben wird. Mädchen sind außerdem ab dem neunten Lebensjahr verpflichtet, den Hijab zu tragen, was als Teil der islamischen Vorschriften in den Schulen durchgesetzt wird.
Auch unabhängig vom Geschlecht birgt das Bildungssystem in Iran mehrere Probleme, die einer einheitlichen Bildung im Weg stehen und zudem sowohl gesellschaftliche Spannungen als auch Ungleichheiten verstärken. Minderheiten in Iran leben häufig in ländlichen Regionen. Eine genaue Zahl der ihnen Angehörenden auszumachen sowie ihre Situation einzuschätzen, ist schwierig, da Beobachter:innen meist an offiziellen Zählungen im Land gehindert werden. Deutlich wird dennoch, dass die dort Lebenden durch die schlechtere Infrastruktur häufig mit einem schwereren oder keinem Zugang zu Bildung zu kämpfen haben. Dieses Konfliktfeld paart sich mit der Diskriminierung religiöser Minderheiten: Auch wenn es kein Gesetz gibt, das religiöse Minderheiten daran hindert, an öffentlichen Schulen unterrichtet zu werden, erfahren Schüler:innen anderer Glaubensrichtungen, wie Sunniten, in den Schulen häufig Benachteiligung. Bestimmten religiösen Minderheiten, wie Anhänger:innen der Bahá'í Religion oder den Zoroastrier:innen, wird der Zugang zu Bildungseinrichtungen in manchen Regionen des Landes gänzlich verwehrt. Schüler:innen jüdischen Glaubens werden zum Beispiel durch antisemitische Lehrmaterialien diskriminiert. In einigen Teilen des Landes gibt es extra Schulen für Schüler:innen religiöser Minderheiten, sodass sie dort mehr Freiheit bei der Gestaltung ihres Religionsunterrichts haben.
Den Lehrer:innen kommt eine schwierige Rolle im Bildungssystem zu. Ihr Beruf gilt, wie die Bildung auch, traditionell als angesehen. Trotzdem müssen Lehrer:innen zum einen mit niedrigen Gehältern und zum anderen mit einem Bildungssystem, das stark durch staatliche Ideologie geprägt ist, kämpfen. So schließen sich Lehrer:innen immer häufiger gegen ihre eigene Repression sowie gegen die Diskriminierung von Schüler:innengruppen zusammen. Lehrergewerkschaften und aktivistische Lehrkräfte werden vom Regime daraufhin oft verfolgt, verhaftet oder mundtot gemacht. Vor allem seit den landesweiten Protesten, die durch den Tod von Mahsa Amini im September 2022 ausgelöst wurden, ist die staatliche Überwachung von Lehrer:innen durch die Regierung verschärft worden.
Die aktuelle Lage für Lehrkräfte und Schüler:innen, die gegen Ungleichheit aufstehen und von ihr betroffen sind, bleibt deshalb äußerst prekär. Die Protestbewegung “Frauen, Leben, Freiheit“ hat zwar das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Reformen gestärkt, der Raum für politische und gesellschaftliche Veränderungen wird von der Regierung aber weiterhin eng gehalten. Lehrende, die sich für Reformen einsetzen, laufen Gefahr, ihre Arbeit oder sogar ihre Freiheit zu verlieren. Das Bildungssystem in Iran ist somit nicht nur ein Ort der Wissensvermittlung, sondern auch ein Schauplatz für den Kampf um Freiheit, Gerechtigkeit und soziale Reformen. Der Ruf nach Veränderungen ist laut, doch der Weg dorthin bleibt steinig und gefährlich.