Die Bildungschancen in Deutschland unterscheiden sich teils erheblich zwischen den verschiedenen Bundesländern (Quelle: Andrew Ebrahim / Unsplash)
München. Dass die Chancen, in Deutschland ein Gymnasium zu besuchen, stark vom sozioökonomischen Hintergrund der Eltern abhängen, ist bereits bestens bekannt. Eine neue Studie des ifo-Instituts in München hat jetzt auch die Unterschiede in den einzelnen Bundesländern ermittelt. Demnach ist die Chancengleichheit in Bayern und Sachsen bundesweit am geringsten, während Kinder in Berlin, Brandenburg und Rheinland-Pfalz weniger stark auf gut situierte und gebildete Eltern angewiesen sind.
Die Studie verglich die Wahrscheinlichkeit eines Gymnasialbesuchs für Kinder aus weniger privilegierten Familien, in denen weder ein Elternteil das Abitur hat noch die Familie zum oberen Viertel der Haushaltseinkommen gehört, mit der Wahrscheinlichkeit für Kinder aus begünstigten Verhältnissen, bei denen mindestens ein Elternteil Abitur hat oder die Familie zum oberen Einkommensviertel zählt.
Dabei lässt sich grundsätzlich feststellen: Die Chancenungleichheit ist in allen Bundesländern stark ausgeprägt.
Deutschlandweit besuchen 26,7 Prozent der Kinder mit niedrigerem Hintergrund ein Gymnasium, mit höherem Hintergrund sind es 59,8 Prozent. Die Chance auf einen Gymnasialbesuch bei niedrigerem Hintergrund ist also nicht einmal halb so groß wie bei höherem Hintergrund.
In Berlin, Brandenburg und Rheinland-Pfalz liegt das Chancenverhältnis mit Werten zwischen 52 und 54 Prozent jedoch signifikant über dem Bundesdurchschnitt von 44,6 Prozent. In Bayern fällt der Wert mit 38,1 Prozent bundesweit am niedrigsten aus, gefolgt von Sachsen (40,1 Prozent) und Bremen (41,5 Prozent).
“Das große Ausmaß der Ungleichheit der Bildungschancen ist zum Glück nicht unumstößlich. Politische Maßnahmen könnten Kinder aus benachteiligten Verhältnissen gezielt fördern, am besten schon im frühkindlichen Alter”, sagt Florian Schoner, Mitautor der Studie. Wichtige Ansatzpunkte seien eine gezielte Unterstützung von Eltern und Schulen in herausfordernden Lagen, eine datenbasierte Sprachförderung sowie Mentoring-Programme. Schließlich könnte auch eine spätere schulische Aufteilung etwas an der ungleichen Chancenverteilung ändern. “Interessanterweise sind Berlin und Brandenburg die einzigen Länder, in denen die Kinder erst ab der 7. Klasse auf das Gymnasium wechseln”, fügt Wößmann an.
Die Datenbasis für die Studie ist der Mikrozensus 2018 und 2019. Für eine Stichprobe von 102.005 Kindern und Jugendlichen im Alter von 10 bis 18 Jahren liefert er Informationen über den Gymnasialbesuch und den familiären Hintergrund. Die Fallzahlen reichen von 947 Kindern in Bremen bis 23.022 in Nordrhein-Westfalen.
“Selbstverständlich ist es nicht für jedes Kind die beste Bildungsentscheidung, auf ein Gymnasium zu gehen. Aber die Chance darauf sollte nicht von der Herkunft des Kindes abhängen”, heißt es in der Studie. Zudem stelle der Gymnasialbesuch ein aussagekräftiges Maß für die sozialen und wirtschaftlichen Chancen eines Kindes dar. “Nach erfolgreichem Abschluss des Gymnasiums eröffnet das Abitur den Zugang zum Hochschulwesen und ermöglicht somit Bildungswege, die mit wohlstandsbringenden Berufsaussichten verbunden sind. Tatsächlich verdienen Menschen mit Abitur im Durchschnitt monatlich netto 42 Prozent mehr als Menschen ohne Abitur”.
Die Bildungsgewerkschaft GEW fordert in Reaktion auf die Studie eine längere Zeit des gemeinsamen Lernens. “Die Chancengleichheit in der Bildung erhöht sich, wenn die Schülerinnen und Schüler mindestens bis zur 10. Klasse zusammen lernen. Das zeigt das Beispiel der skandinavischen Staaten. Je weniger Selektion, desto besser kann jedes Kind seine Bildungspotenziale entwickeln”, sagte Anja Bensinger-Stolze, GEW-Vorstandsmitglied Schule, am Montag mit Blick auf die Ergebnisse der Studie. Die Untersuchung untermauere einmal mehr den engen Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und sozioökonomischer Herkunft der Kinder.
“Die KMK muss sich endlich ernsthaft damit befassen, das längere gemeinsame Lernen in den Mittelpunkt ihrer Planungen zu stellen”, so der Vorschlag der Gewerkschafterin: “In den Bundesländern, die Gesamt- und Gemeinschaftsschulen mit der Möglichkeit ein Abitur zu machen oder eine sechsjährige Grundschule vorhalten, sind die Bildungschancen auch für benachteiligte Schülerinnen und Schüler sehr viel besser”, unterstrich Bensinger-Stolze.
Scharfe Kritik an der Studie kam vom Deutschen Philologenverband. “Es ist äußerst bedenklich, wenn ausgerechnet ein Wirtschaftsforschungsinstitut mit Daten von gestern eine leistungsvergessene Schulpolitik für morgen gestalten will!”, sagte DPhV-Bundesvorsitzende Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing. Die Daten des Mikrozensus aus der Zeit vor der Corona-Pandemie seien nicht mehr repräsentativ. Außerdem würden die Forschenden den Bildungserfolg ausschließlich auf sozioökonomische Faktoren und den Bildungsabschluss der Eltern reduzieren und die Schülerleistung außen vor lassen. “Nicht Bayern und Sachsen liegen beim ‚Länderranking‘ oben, sondern Berlin, Brandenburg und Rheinland-Pfalz wird die relativ gerechteste Verteilung von Bildungschancen von Kindern mit verschiedenen familiären Hintergründen in Deutschland attestiert. Interessanterweise findet sich angesichts des von der Studie attestierten höchsten Ranges für Berlin für dessen relative Bildungsgerechtigkeit das bemerkenswerte Detail, dass genau dort die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder mit ‚höherem Hintergrund‘ ein Gymnasium besuchen, am höchsten von allen Bundesländern ist und dort knapp 70 Prozent (68,9 Prozent) beträgt”, so Lin-Klitzing.