Kommentar: Sprache formt das Denken, aber wer formt die Sprache?

Zwei Ziegen mit braunem Fell stoßen frontal mit den Köpfen aneinander

Wenn Meinungen aufeinanderprallen: Die festgefahrene Debatte ums Gendern. (Quelle: Canva)

Dieser Artikel ist ein Kommentar unserer Redakteurin und stellt ihre persönliche Meinung dar. Er spiegelt nicht zwangsläufig die Ansichten der gesamten Redaktion wider.

Die Debatte um das Gendern ist in den letzten Jahren zu einem viel diskutierten Thema in der Gesellschaft geworden. Und auch im Bildungsbereich scheiden sich die Geister: Während einige in der gendergerechten Sprache ein unverzichtbares Instrument zur Förderung von Gleichberechtigung und Inklusion sehen, betrachten andere sie als überflüssige und sperrige Sprachregelung, die den Lern- und Lehralltag unnötig verkompliziert. Warum ist die Diskussion so festgefahren und warum sollten wir über das Gendern in Bildung und Wissenschaft reden?

Gendern: Eine sprachliche Revolution mit gesellschaftlichem Ziel?

Seit wann reden (und schreiben) wir über das Gendern?

Die Diskussion über gendergerechte Sprache begann in den 1960er-Jahren und wurde vor allem von feministischen Bewegungen angestoßen. Zu dieser Zeit nutzte man den Schrägstrich (Lehrer/innen), um Frauen in der Sprache sichtbar zu machen. Das generische Maskulinum – die männliche Form, die als allgemeingültig für alle Geschlechter verwendet wird – war den frühen Feministinnen ein Dorn im Auge, da es Frauen unsichtbar machte. Bereits damals gab es jedoch Kritik, auch von feministischer Seite, die bemängelte, dass Frauen in diesen Schreibweisen nur als Anhang betrachtet und somit weiterhin untergeordnet würden.

Ganz nach dem Motto: Mitgemeint ist eben noch lange nicht mitgenannt.

In den 1980er-Jahren folgte mit dem Binnen-I (LehrerInnen) eine neue Variante der gendergerechten Schreibweise, die von dem Journalisten Christoph Busch eingeführt wurde. Diese Form war ein Versuch, die Frauen stärker in den Fokus zu rücken, indem das große I die Gleichwertigkeit von Männern und Frauen symbolisierte. Doch auch diese Form blieb nicht unumstritten. In den darauffolgenden Jahren entwickelte sich eine Vielzahl weiterer Ansätze, darunter der Gender-Gap (Lehrer_innen) und der Genderstern (Lehrer*innen), die auch nicht-binäre Menschen in die Sprache einbeziehen sollen. Diese Schreibweisen haben sich in feministischen und queeren Kreisen etabliert, jedoch lange nicht in der breiten Gesellschaft durchgesetzt. Erst in den letzten Jahren, mit verstärktem Fokus auf Inklusion und Diversität, hat das Thema größere gesellschaftliche und politische Aufmerksamkeit erlangt.

Die aktuelle Debatte um das Gendern

In den letzten Jahren hat die Diskussion um gendergerechte Sprache an Fahrt aufgenommen – und das nicht nur in der öffentlichen Debatte, sondern auch im Suchverhalten der Menschen. Ein Blick auf die Google-Suchtrends seit 2010 zeigt deutlich, dass das Interesse am Gendern, insbesondere ab dem Jahr 2020, rasant gestiegen ist. Während in den Jahren zuvor kaum nach Begriffen wie “Gendern” gesucht wurde, explodierten die Suchanfragen im Laufe der letzten Jahre regelrecht. Dieser Anstieg spiegelt wider, wie stark das Thema in den gesellschaftlichen Diskurs eingedrungen ist, insbesondere mit dem wachsenden Fokus auf Inklusion und Gleichberechtigung.

Unser Suchverhalten zeigt aber auch, dass die Frage nach gendergerechter Sprache nicht mehr nur ein Randthema feministischer oder queerer Bewegungen ist, sondern zunehmend die breite Bevölkerung beschäftigt. Dass wir nicht nur über das Gendern reden, sondern auch aktiv danach suchen, deutet darauf hin, dass viele Menschen nach Antworten und Orientierung in dieser sprachlichen und gesellschaftlichen Frage streben.

Die Häufigkeit des Suchbegriffs “gendern” von 2010 bis heute. (Quelle: Google Trends)

Was genau ist eigentlich Gender?

Der Begriff Gender unterscheidet sich vom deutschen Begriff Geschlecht. Während Geschlecht sowohl das biologische als auch das soziale und kulturelle Geschlecht umfassen kann, bezieht sich Gender speziell auf die gesellschaftliche Dimension von Geschlecht. Es beschreibt die kulturellen und historischen Vorstellungen, Rollen und Erwartungen, die mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht verbunden sind. Gender ist also nicht statisch, da es von kulturellen und historischen Einflüssen geprägt ist. Dies bedeutet, dass unser Konzept von Männlichkeit und Weiblichkeit – und alles, was dazwischen liegt – kulturell bedingt ist und sich mit der Zeit verändern kann.

Mittlerweile haben sich die Gender Studies als eigenständige Forschungsdisziplin etabliert, die sich mit der gesellschaftlichen Konstruktion von Geschlecht und den damit verbundenen sozialen Rollen, Machtverhältnissen und Ungleichheiten auseinandersetzt. Auch in der Sprachwissenschaft ist die Diskussion um gendersensible Sprache längst angekommen. Hier wird intensiv untersucht, wie Sprache Geschlechterbilder prägt und wie eine inklusivere und gerechtere Sprache zur Reduktion von Ungleichheiten beitragen kann. Die Forschung zeigt auf, dass sprachliche Veränderungen eine wesentliche Rolle dabei spielen können, geschlechtergerechte Strukturen in der Gesellschaft zu fördern und Stereotype abzubauen.

Gendern in Wissenschaft und Bildung

Auch in wissenschaftlichen Texten wird zunehmend darauf geachtet, geschlechtsneutrale bzw. -gerechte Sprache zu verwenden. Dabei gibt es mehrere Möglichkeiten, wie dies umgesetzt werden kann: Eine verbreitete Methode ist die Verwendung von Partizipien wie “Lernende” oder “Lehrende”, um geschlechtsneutrale Bezeichnungen zu schaffen. Alternativ werden Genderstern, Doppelpunkt oder andere Sonderzeichen genutzt, um die Repräsentation aller Geschlechter zu gewährleisten. Es gibt keinen “goldenen Standard”, solange konsequent eine gewählte Form verwendet wird. 

Und doch scheint auch hier die Einigkeit zu fehlen: Jede Universität und Hochschule handhabt es anders. Mancherorts ist gendergerechte Sprache verpflichtend, andernorts freiwillig, an manchen Stellen sogar verboten. In einigen Fällen bleibt es den Schreibenden völlig frei überlassen. Egal, wie man es umsetzt, am Ende berufen sich alle auf die Wissenschaftsfreiheit. Doch diese Vielfalt an Regelungen – oder das Fehlen derselben – wirkt manchmal fast willkürlich. Und auch in den Schulen gibt es keine einheitliche Regelung. Das ist doch, gelinde gesagt, eine etwas unglückliche Situation.

Und was hat das alles mit Gleichberechtigung zu tun?

Gendergerechte Sprache hat das Ziel, Gleichberechtigung und Sichtbarkeit zu fördern, indem sie nicht nur Männer und Frauen, sondern auch nicht-binäre Menschen sprachlich berücksichtigt. Traditionell basiert die deutsche Sprache auf einer bipolaren Geschlechterordnung, die männliche und weibliche Geschlechter als einzig mögliche anerkennt. Doch diese Sichtweise erscheint zunehmend überholt, da Geschlecht heute als Spektrum verstanden wird, das über die starre Einteilung in Mann und Frau hinausgeht. Gendergerechte Sprache versucht, die Vielfalt der Geschlechter zu repräsentieren und gleichzeitig festgefahrene Rollenbilder infrage zu stellen.

Bildungseinrichtungen spielen eine zentrale Rolle in der Vermittlung von Werten und Normen. Sie sind nicht nur Orte des Wissens, sondern auch Räume, in denen junge Menschen die Welt und soziale Interaktionen erlernen. In diesem Kontext wird die Frage, ob gendergerechte Sprache in diesen Institutionen (k)eine feste Rolle spielen sollte, besonders relevant. Schließlich formt Sprache unser Denken und damit auch unser Verständnis von Gleichberechtigung und Teilhabe. Wenn wir in der Schule oder im Studium nicht lernen, wie vielfältig die Welt ist – und dass diese Vielfalt auch sprachlich zum Ausdruck kommt –, wie sollen wir dann ein umfassendes Verständnis von Gerechtigkeit und Inklusion entwickeln?

Gendergerechte Sprache in Schulen und Universitäten ist mehr als nur eine Frage der Ausdrucksweise. Sie vermittelt, dass alle Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht gleichberechtigt teilhaben können und sollen. Die Art, wie wir sprechen, trägt somit unmittelbar zur sozialen Gerechtigkeit bei – oder hindert sie. Wenn wir Geschlechtervielfalt in der Sprache nicht abbilden, bleiben Menschen weiterhin unsichtbar, die sich außerhalb des traditionellen Geschlechtersystems verorten. Schulen und Universitäten haben die Chance – oder besser gesagt, die Verantwortung –, durch den bewussten Einsatz von Sprache die Gleichberechtigung aller Geschlechter zu fördern.

Also sollten wir gendern dürfen? Ich glaube schon.

Von Geboten, Verboten und angeblichen Zwängen

Die Debatte um gendergerechte Sprache ist zweifellos gerechtfertigt und notwendig, denn sie betrifft grundlegende Fragen von Gleichberechtigung und Sichtbarkeit. Doch es gibt immer wieder Stimmen, die behaupten, Gendern würde vorgeschrieben und ihnen die Freiheit genommen, ihre Sprache so zu nutzen, wie sie möchten. Diese Vorwürfe sind nicht nur haltlos, sondern sie verdrehen die Tatsachen. Diese Vorstellung entbehrt jeder Grundlage – es gibt keinen Zwang zum Gendern, hat es nie gegeben und wird es auch nie geben. Gendergerechte Sprache ist eine Empfehlung, ein Vorschlag, ein Versuch, Kommunikation inklusiver zu gestalten, aber sie wird niemandem aufgezwungen. 

Ironischerweise sind es gerade diejenigen, die diese Freiheit einfordern, die gleichzeitig fordern, gendergerechte Sprache zu verbieten. In den letzten Monaten haben wir mehrfach über Genderverbote in Schulen und Universitäten berichtet, unter anderem in Bayern und Sachsen. Die Stimmen der Menschen in den Schulen und Universitäten wird dabei nicht berücksichtigt. Nach dem Verbot in Bayern gab es beispielsweise viel Kritik von Lehrkräften, der GEW und kurz darauf schmückte sogar ein Protestbanner die Münchner Staatskanzlei. 

Diese Verbote tragen meiner Meinung nach nicht zur Lösung bei. Anstatt ständig darüber zu streiten, ob Gendern verpflichtend oder verboten sein sollte, sollten wir uns auf die Frage konzentrieren, wie wir eine inklusive und machbare Lösung finden können. Ideologisch geführte Debatten – Überraschung – bringen uns nicht weiter.

Und die Moral von der Geschicht’?

Ist euch beim Lesen etwas anders vorgekommen? In all unseren anderen Artikeln und Formaten verwendet unsere Redaktion den Doppelpunkt, um gendergerecht zu formulieren. Für diesen Kommentar habe ich mich bewusst dagegen entschieden. Warum? Ich wollte herausfinden, ob unsere Leserschaft dies bemerkt und ob es für mich beim Schreiben und Formulieren einen Unterschied macht. Teilt uns doch gerne in den Kommentaren mit, ob es euch aufgefallen ist – und was ihr generell vom Gendern auf Nachrichtenseiten und Internetportalen haltet.

Dies ist der erste Teil dieses umfassenden Kommentars. Der zweite Teil, der tiefer auf die verschiedenen Argumente für und gegen das Gendern eingehen wird, erscheint am 11. Oktober und wird die Diskussion fortsetzen. Wir freuen uns, wenn Sie auch den nächsten Teil lesen.
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