Nachsitzen in der Schule: Zwischen Bestrafung und pädagogischem Nutzen

Nachsitzen in der Schule: Zwischen Bestrafung und pädagogischem Nutzen

Schuljungen beim Nachsitzen, Gemälde von Erskine Nicol um 1870 (Quelle: Commons)

Man kennt es aus der eigenen Schulzeit: Hausaufgaben nicht gemacht oder vergessen, man ist zu laut oder stört und als Konsequenz wird man vor die Tür geschickt, muss eine Strafarbeit schreiben oder Nachsitzen. Ob derartige Maßnahmen noch ihren pädagogischen Zweck erzielen oder eigentlich schon längst durch andere, bessere Methoden ersetzt werden sollten, besprechen wir im folgenden Artikel.  

Im Jahr 2016 musste sich ein Lehrer aus Nordrhein-Westfalen vor Gericht verantworten, da er eine sechste Klasse daran hinderte, das Klassenzimmer zu verlassen, bis sie einen Wikipedia-Artikel als Strafarbeit vollständig abgeschrieben hatten. Ein Schüler verständigte daraufhin die Polizei, was im Nachhinein die Frage aufwarf, ob Nachsitzen als Freiheitsberaubung anzusehen sei. Der Musiklehrer wurde in erster Instanz wegen Freiheitsberaubung vom Amtsgericht Neuss verurteilt, in zweiter Instanz jedoch vom Düsseldorfer Landgericht wieder freigesprochen. Dies setzte eine Debatte zu zeitgemäßen, schulischen Disziplinarmaßnahmen in Gang. In den unterschiedlichen Schulgesetzen der Länder ist Nachsitzen grundsätzlich als Erziehungs- oder Ordnungsmaßnahme mit einigen Ausnahmen und Unterschieden erlaubt. Die Frage nach der Sinnhaftigkeit ist aber dadurch noch nicht beantwortet.

Die Handlung des Musiklehrers folgte als Reaktion auf Unterrichtsstörung von Seiten der Schüler:innen. Unter Referendariat:innen und jungen Lehrer:innen wird das Thema „Unterrichtsstörung“ meist heiß diskutiert. Denn bei überfüllten Klassenzimmern und in Zeiten erhöhten Lehrermangels können die übrig gebliebenen Lehrkräfte schonmal an ihre Grenzen kommen, wenn sie beispielsweise vor pubertierenden Jugendlichen stehen, die aus Ablenkung, Hyperaktivität oder anderen privaten Gründen während der Unterrichtszeit auffallen, zu spät kommen oder mental abwesend erscheinen. Aber ist direkt mit einer Strafe zu reagieren die beste Lösung?

Beziehung vs. Disziplin

Es geht um die Schüler-Lehrer-Beziehung, die bei sofortigem Sanktionieren Gefahr läuft, eine negative Auswirkung zu erleiden. Studien haben ergeben, dass Strafmaßnahmen langfristig betrachtet das Verhalten, für das sie verhängt werden, nicht verhindern. Vielmehr lenken sie von einer echten Einsicht ab und sorgen mehr für ein Gefühl von Ungerechtigkeit, Wut oder Trauer. Beziehungen können als soziale Interaktionen über die Zeit verstanden werden. So entstehen auch zwischen Lehrer:innen und Schüler:innen Beziehungen und gegenseitige Erwartungen. Was eine gute Beziehung ausmacht, ist vor allem Empathie, Respekt und Wertschätzung – und die kann eine Lehrkraft nicht unilateral einfordern, sondern es sind reziproke wechselseitige Angelegenheiten, so Prof. Dr. Alexander Wettstein. Das heißt, die gewünschte Anerkennung gelingt nur, wenn sie auch von beiden Seiten erwidert wird. 

Wettstein ist seit 2016 Leiter des Schwerpunktprogramms "Soziale Interaktion in pädagogischen Settings” am Institut für Forschung, Entwicklung und Evaluation der Pädagogischen Hochschule Bern. Die einen sagen, Beziehungen sind überbewertet, Disziplin sei eigentlich das Wichtige, das in der Schule zu einem geordneten Alltag und schließlich zum Lernerfolg führt. Jedoch schließen sich diese – aus Sicht von Prof. Dr. Alexander Wettstein – nicht gegenseitig aus, sondern gehen vielmehr Hand in Hand. Es gibt zwei Dimensionen, die bei der Betrachtung eine Rolle spielen: die emotionale Ebene, die zwischen Wärme und Feindseligkeit variiert, und die Lenkungsdimension, die zwischen Dominanz und Unterwerfung unterscheidet. „Ich kann sehr klar machen, was ich von Schülerinnen und Schülern erwarte, aber das in einer positiv, emotional guten Weise“, „gleichzeitig könnte ich auch sehr lenkend sein, aber emotional kalt, strikt, tadelnd“ sagt Wettstein. Dazu betont er besonders, dass Pädagogen und Pädagoginnen stets auf der positiven Seite bleiben sollten. Im Quadrantenmodell befinden sich viele Lehrerpersönlichkeiten, dabei kommt es nicht auf den einzelnen Typen (führend, helfend, strikt, etc.) an, sondern darauf, dass die Lehrkraft auch in schwierigen Situationen emotionale Wärme ausstrahlt und den Menschen sieht anstatt das Kind zu “pathologisieren” und nur noch ein Störungsbild wahrzunehmen. 

Quelle: Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Zürich 

In einer etwas älteren Studie aus 2002, welche im Rahmen der Vergleichbarkeit der Schulatmosphäre weltweit zuletzt Daten von sechs Schulen aus Deutschland unter anderem bezüglich der Schüler-Lehrer-Verhältnisse erhoben hatte, kamen ebenfalls interessante Ergebnisse heraus. 13-16-jährige beurteilten das Verhältnis zu ihren Lehrer:innen deutlich schlechter als jüngere Schüler:innen. Dementsprechend zeigten sich wahrgenommene Spannungen zwischen Schüler:innen und Lehrer:innen zunehmend mit steigender Jahrgangsstufe. Schüler:innen wurden zudem über die Art der Strafe befragt, die sie selbst schon einmal bekommen hatten. Nachsitzen lag nach Strafarbeit, Verwarnung und einer schlechten Note auf Platz vier mit rund 23 %. 

Quelle: Institut für empirische Soziologie Nürnberg

Spannend wäre es, dieselben Daten heute noch einmal zu erheben, um feststellen zu können, ob sich in den letzten 20 Jahren in der Methodik der Lehrkräfte etwas verändert hat, wenn es um den Umgang mit “Unterrichtsstörungen” und Disziplinierungsmaßnahmen geht. 

Alternative pädagogische Maßnahmen

„Prävention durch guten Unterricht ist besser als jede Form der nachträglichen Intervention.“ sagt Lehrer, Autor und Bildungsinfluencer Bob Blume. Dazu gehört für ihn beispielsweise eine gute Klassenführung und der reibungslose Unterricht – möglichst ohne Leerstellen, die Schüler:innen erlauben, ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken. Eine positive Grundhaltung und das Belohnen von erwünschten Verhaltensweisen statt die Bestrafung von unerwünschten Handlungen kommt laut Bob Blume ebenfalls zu kurz. 

Eine andere alternative Möglichkeit ist die Implementierung von Restorative Justice-Praktiken. Hierbei geht es darum, dass Schüler:innen ihre Handlungen reflektieren und sich aktiv an der Wiedergutmachung beteiligen. Dadurch wird das Verantwortungsbewusstsein der Schüler:innen gestärkt und die Beziehung zwischen Schüler:innen und Lehrer:innen durch das gemeinsame Suchen nach einer Lösung  verbessert.

Ob Nachsitzen als pädagogische Maßnahme in der modernen Schule noch zeitgemäß ist oder ob es bereits überholt ist, bleibt offen. Klar ist jedoch, dass Maßnahmen zuallererst die Schülerinnen und Schüler in ihrer Entwicklung unterstützen und ein positives Schulklima fördern sollten, da das Vertrauen zwischen Lehrer:innen und Schüler:innen den Unterrichts- und Lernerfolg am meisten voranzutreiben scheint. 

Wie geht ihr mit Unterrichtsstörung um und welche Maßnahmen haben sich bei euch besonders bewährt? Was haltet ihr vom Nachsitzen? Wir freuen uns über eure Kommentare!

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