Christelle Schläpfer, Gründerin und Inhaberin von edufamily, ehemalige Gymnasiallehrerin und Mobbing-Beraterin für Schulen, Familien und Erzieher:innen. (Quelle: Das Schweizer Eltern Magazin)
Wer gemobbt wird, trägt oft ein lebenslanges Trauma mit sich herum. Mobbing an Schulen ist daher ein sehr ernstzunehmendes Thema, das nicht nur die physische und psychische Gesundheit der betroffenen Schüler:innen beeinträchtigt, sondern auch lebenslange seelische Narben hinterlässt. Internet und soziale Medien machen Mobbing zu einem aktuelleren Problem denn je. Um die Komplexität und die Dynamiken dahinter zu verstehen, haben wir mit Christelle Schläpfer, Mobbing-Expertin und Gründerin von edufamily, gesprochen. Durch ihre ehemalige Tätigkeit als Lehrerin hat sie Mobbing unter Schüler:innen aus erster Hand miterlebt. Nun hilft sie Schulen, Familien und Erzieher:innen Mobbing präventiv vorzubeugen, zu erkennen und nachhaltig zu verhindern. Was Lehrkräfte tun sollten, wenn ihre Schüler:innen mobben oder gemobbt werden und wie es überhaupt so weit kommt – darum ging es in unserem Interview.
Lehrer News: Wo und in welchen Formen kommt Mobbing vor und warum mobben Kinder überhaupt?
Schläpfer: Mobbing tritt in der Regel an Orten auf, die außerhalb des direkten Sichtfeldes der Lehrpersonen liegen, wo es keine Überwachung gibt. Oft höre ich von Schulen die Aussage: “Wir haben nichts gesehen. Es gibt keine Beweise. Es ist nicht offensichtlich”. Mobbing unterscheidet sich deutlich von einfachen Konflikten, da es häufig in verborgenen Bereichen stattfindet: auf Toiletten, in den Gängen, auf Treppen, in abgelegenen Ecken des Pausenhofs, in Umkleideräumen, auf dem Nachhauseweg oder auch digital.
Kinder, die mobben, sind sich im Grunde genommen bewusst, dass ihr Verhalten inakzeptabel ist. Dies unterscheidet sich deutlich von Konfliktsituationen, welche oft offen ausgetragen werden.
Mobbing kann in verschiedenen Formen auftreten, wobei wir in der Regel vier Hauptformen unterscheiden: verbales Mobbing, wie etwa Demütigung, Beschämung, Erpressung, Beleidigung und Schikane.
Physisches Mobbing manifestiert sich nicht nur durch direkte körperliche Gewalt wie Schlagen oder Treten, sondern kann sich auch auf materielle Bereiche erstrecken. Das kann bedeuten, Gegenstände zu beschädigen oder verschwinden zu lassen, oder Hausaufgaben absichtlich wegzuwerfen.
Psychologisches Mobbing, auch bekannt als soziales Mobbing oder indirektes Mobbing, ist subtiler und verdeckter. Es äußert sich beispielsweise durch Ausgrenzung, Ignorieren oder das Behandeln einer Person wie Luft. Ein Beispiel hierfür könnte sein, dass alle Kinder außer einem zu einem Geburtstag eingeladen werden, oder dass ein Kind bei sportlichen Aktivitäten oder Gruppenarbeiten systematisch ausgeschlossen wird. Ich habe sogar erlebt, dass Eltern bei der Zimmeraufteilung für Klassenfahrten meinten, ihr Kind hätte nun die “Arschkarte” gezogen, weil es mit dem “Opfer” das Zimmer teilen müsse. Mobbing findet nicht nur auf der Ebene der Klasse statt, sondern ist oft viel komplexer.
Die digitale Form des Mobbings ist oft eine Erweiterung des analogen Mobbings und kann nahtlos ineinander übergehen. Studien zeigen mittlerweile deutlich, dass Cybermobbing und traditionelles Mobbing eng miteinander verbunden sind. Es ist wichtig, den Ursprung des Mobbings zu identifizieren und zu verstehen, ob es analog oder digital begonnen hat.
Die Gründe, warum Kinder mobben, sind vielschichtig. Es gibt nicht nur einen einzigen Auslöser. Täter-Kinder reagieren oft aus einem Gefühl der Minderwertigkeit heraus und versuchen, durch Mobbing Macht, Kontrolle oder Aufmerksamkeit zu erlangen. Ein Kind, das sich selbst als gleichwertig empfindet und ein gesundes Selbstwertgefühl hat, neigt weniger dazu, andere zu schikanieren. Dennoch sollten wir uns bei der Bewältigung nicht ausschließlich auf das Täter-Kind konzentrieren. Die Klassendynamik und das Verhalten der Lehrkraft spielen ebenfalls eine wichtige Rolle.
Es ist entscheidend, keinen Sündenbock zu suchen und das Täter-Kind mit Strafen zu konfrontieren. Wenn wir die kompensatorische Dynamik des Mobbings verstehen, erkennen wir, dass Strafen lediglich Symptome bekämpfen und die Mobbenden nicht sozialkompetenter machen. Stattdessen müssen die Kinder, die für das Mobbing verantwortlich sind, in die Lösungsfindung einbezogen werden, ebenso wie diejenigen, die das Gefühl haben, sie hätten nichts falsch gemacht. Sie sind wichtige Akteure in der Lösungsfindung. Mobbing ist ein Gruppenphänomen, allerdings ist damit nicht eine Gruppe mobbender Kinder gegen ein Opfer gemeint, sondern es impliziert auch weitere Rollen, manchmal sogar klassen- oder systemübergreifend.
Lehrer News: Wieso werden einige Kinder Täter, andere Opfer?
Schläper: Heutzutage kann jeder potenziell ein Opfer von Mobbing werden – das ist mittlerweile bekannt. Früher wurde oft das Bild des typischen schüchternen Opfers mit geringem Selbstwertgefühl vermittelt, aber das entspricht nicht der Realität. Selbst Personen im Netz, die als selbstbewusst gelten, können zum Ziel von Hassnachrichten und massiven Mobbingaktionen werden. Durch die digitale Welt ist es heutzutage noch einfacher geworden, Mobbing zu betreiben. Dabei spielen verschiedene Faktoren wie die Zusammensetzung der Klasse oder die Kultur der Schule eine Rolle.
Die Täterrolle entsteht oft aus einem kompensatorischen Verhalten heraus. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Kinder, die einmal Opfer waren, später selbst zu sogenannten Opfer-Täter werden. Das kann zunächst schwer nachvollziehbar erscheinen, ist aber wie ein innerer Schwur: So etwas soll mir nie wieder passieren. Es zeigt sich, dass jedes Opfer unterschiedlich reagiert. Einige Opfer werden immer wieder zu Opfern, während andere ehemalige Opfer zu Tätern werden, sei es in höheren Klassen oder in anderen Kontexten. Manchmal sind Kinder auch zu Hause Opfer, beispielsweise durch eine strenge Erziehung oder eine ungleiche Behandlung innerhalb der Geschwisterkonstellation. Ein Kind kann sich abgelehnt fühlen und diesen Frust, diese Wut in der Schule ausleben, sogar gegenüber seinen Geschwistern. Mobbing zwischen Geschwistern ist keine Seltenheit.
Das Täter-Kind reagiert aus einem Gefühl der Entmutigung oder Minderwertigkeit heraus. Wir Menschen kompensieren alle auf unterschiedliche Weise – einige mit Perfektionismus, andere mit Vermeidung. Das Täter-Kind reagiert mit Gewalt, indem es andere unterdrückt und sich dadurch stärker fühlt. Doch dies führt nicht zu einer nachhaltigen Steigerung des Selbstwertgefühls. Die Kompensationskurve wird fortbestehen, insbesondere wenn das Kind bestraft oder unterdrückt wird. In diesem Fall wird es versuchen, noch subtiler zu mobben und sich zu rächen.
Lehrer News: Wie können Lehrkräfte feststellen, dass ihre Schüler unter Mobbing leiden?
Schläpfer: Es gibt verschiedene Anzeichen, auf die man achten kann, um Mobbing zu erkennen. Neue Zahlen zeigen, dass lediglich 20 bis 30 Prozent der betroffenen Kinder Hilfe holen. Viele haben Angst davor, dass die Situation sich verschlimmert, wenn sie etwas sagen, sie fürchten, als Petze dazustehen, haben Zweifel daran, dass ihnen geglaubt wird oder denken, dass es sowieso nichts ändern wird.
Deshalb ist es von großer Bedeutung, aufmerksam zu sein, ob zu Hause oder in der Schule. Es gibt verschiedene Anzeichen, die darauf hinweisen können. Zu Hause können das beispielsweise Schlafstörungen oder Veränderungen im Essverhalten sein, während sich in der Schule beispielsweise die Gruppendynamik ändern kann oder Spannungsfelder in der Klasse entstehen.
Ein betroffenes Kind selbst zeigt oft Verhaltensänderungen wie Rückzug, geringere Beteiligung im Unterricht, längeres Verweilen im Klassenzimmer, früheres Erscheinen in der Schule oder späteres Nachhausegehen. Es kann auch verstärkt den Kontakt zur Lehrperson suchen und Schutz bei ihr suchen. Ein Leistungsabfall oder häufiges Fehlen können ebenfalls Hinweise sein.
Es ist entscheidend, aufmerksam zu sein und die Anzeichen zu erkennen, die darauf hinweisen könnten, dass ein Kind gemobbt wird. Ein Leistungsabfall oder Verhaltensänderungen wie sich zurückziehen, weniger Beteiligung am Unterricht oder vermehrtes Alleinsein können Hinweise sein. Es ist jedoch von großer Bedeutung, nicht vorschnell Schlüsse zu ziehen, sondern das Kind behutsam anzusprechen und die beobachteten Veränderungen zu beschreiben. Anstatt direkt zu fragen, ob es gemobbt wird, ist es sinnvoll, dem Kind zu signalisieren, dass man für es da ist und ihm Unterstützung bietet. Als Lehrkraft ist es wichtig, einen sicheren Raum zu schaffen, in dem das Kind sich öffnen kann, ohne befürchten zu müssen, dass Maßnahmen ohne seine Zustimmung ergriffen werden.
Lehrer News: Was können Eltern präventiv tun, um ihre Kinder vor Mobbing zu schützen?
Schläpfer: Die Prävention von Mobbing erfordert eine koordinierte Anstrengung aller Beteiligten. Weder die Eltern noch die Schule können das Problem alleine lösen. Ein entscheidender Faktor ist, dass Eltern eine gute Beziehung zu ihren Kindern pflegen, damit diese im Falle von Problemen offen darüber sprechen können, anstatt sie alleine zu bewältigen. Es ist wichtig, frühzeitig einzugreifen.
Es gibt jedoch auch Eltern, die bei den ersten Anzeichen von Mobbing sofort zur Schule eilen und behaupten: “Mein Kind wird gemobbt”, während die Schule möglicherweise noch nicht von Mobbing spricht. Es ist wichtig, im Gespräch zu bleiben, die Anzeichen ernst zu nehmen und im Dialog zu bleiben, um Kinder in Lösungsansätzen zu befähigen. Ein absolut nicht optimaler Ansatz ist es, wenn Eltern ihren Kindern raten: “Wehr dich doch” oder ihnen schlagfertige Antworten beibringen. Dies spielt den Mobbern in die Hände, da sie sich provoziert fühlen und weitermachen. In solchen Fällen sprechen wir von einem “aktiven Opfer”. Ebenso sollten Eltern vermeiden, auf die Eltern der Täter zuzugehen und das Problem allein lösen zu wollen, da Mobbing ein Gruppenphänomen ist, das mit der gesamten Klasse angegangen werden muss und nicht nur mit den vermeintlichen Tätern.
Eltern können jedoch das Selbstwertgefühl ihrer Kinder stärken, da Mobbing einen starken Einfluss darauf hat. Kinder müssen lernen, dass sie wertvoll sind und sich nicht so leicht unterkriegen lassen sollten. Ein starkes Selbstwertgefühl macht Kinder weniger anfällig für Mobbing und befähigt sie dazu, Mut und Zivilcourage zu zeigen, indem sie sagen: “Nein, das ist nicht in Ordnung. Wir machen da nicht mit”; oder “Lass ihn/sie in Ruhe”. Wir sollten Kinder nicht nur darin stärken, kein potenzielles Opfer zu werden, sondern auch in anderen Rollen, damit sie den Mut haben, Hilfe zu suchen und selbst nicht zu mobben.
Außerschulische Kontakte sind ebenfalls hilfreich, insbesondere wenn ein Kind von Mobbing betroffen ist. Wenn sich plötzlich die Situation in der Klasse ändert oder eine Beziehung auseinanderbricht und sich daraufhin Mobbing entwickelt, können außerschulische Freundschaften eine wichtige Unterstützung sein. Es ist wichtig, dass Kinder auch außerhalb der Schule soziale Kontakte haben, wo sie sich akzeptiert und zugehörig fühlen. Dies trägt zur Stärkung ihrer sozialen und emotionalen Ressourcen bei und fördert ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber Mobbing.
Lehrer News: Kann es überhaupt Aufgabe der Schule und Lehrkräfte sein, Mobbing zu verhindern?
Schläpfer: Die Bedeutung von Prävention kann nicht genug betont werden. Es ist entscheidend, dass Mobbing nicht nur als einmaliges Ereignis betrachtet wird, sondern als ein Phänomen, das fortlaufende Aufmerksamkeit und Handlung erfordert. Eine isolierte Mobbing-Präventionsstunde pro Jahr reicht nicht aus, um eine nachhaltige Veränderung herbeizuführen. Das ist vergleichbar mit dem Pflanzen eines Samens und dem anschließenden Vernachlässigen – ohne regelmäßige Pflege wird nichts gedeihen. Eine wertschätzende Schulhauskultur kann nicht durch gelegentliche Übungen entstehen; sie muss integraler Bestandteil des Schulalltags werden.
Des Weiteren ist ein besseres Verständnis der Mobbing-Thematik unerlässlich. Viele Schulen haben eine unzureichende Sensibilisierung und fehlendes Fachwissen, was dazu führt, dass Mobbing häufig mit normalen Konflikten verwechselt wird. Es ist von entscheidender Bedeutung, Mobbing frühzeitig zu erkennen, um rechtzeitig eingreifen zu können. Dabei ist die Art des Eingreifens entscheidend. Konfrontative oder strafende Maßnahmen können die Situation verschlimmern. Nicht jede Intervention ist hilfreich; es ist wichtig, Mobbing richtig zu erkennen und angemessen zu reagieren.
Prävention bedeutet nicht nur, den Zusammenhalt in der Klasse zu stärken oder die Atmosphäre zu verbessern, sondern auch frühzeitig einzugreifen. Mobbing über einen längeren Zeitraum kann verheerende Auswirkungen auf ein Kind haben. Deshalb darf man nicht einfach abwarten und beobachten, sondern muss aktiv handeln. Die Schule spielt dabei eine zentrale Rolle, da sie die einzige Institution ist, die mit der Gruppe arbeiten kann. Mobbing ist ein gruppendynamisches Phänomen, das eine gemeinsame Anstrengung erfordert, um erfolgreich bekämpft zu werden. Es ist wichtig, dass Schulen, Eltern und Schüler gemeinsam an einer wertschätzenden Kultur arbeiten, die auf Partizipation und Zusammenarbeit basiert, anstatt einseitige Forderungen zu stellen oder Verantwortung abzuschieben.
Lehrer News: Was können und sollten Lehrkräfte tun, wenn Sie mitbekommen, dass ein Kind gemobbt wird oder selbst Mitschüler:innen mobbt?
Schläpfer: In erster Linie steht das Wohlergehen des betroffenen Kindes im Mittelpunkt. Es ist wichtig, eine Art Triage durchzuführen und den Opferschutz zu gewährleisten. Ein Kind, das von Mobbing betroffen ist, kann sich in einer äußerst belastenden Situation befinden, möglicherweise sogar mit Selbstmordgedanken. Daher ist es entscheidend, sofort zu erfassen, ob das Kind zusätzliche psychologische Unterstützung benötigt. Jegliche Maßnahmen werden nur mit dem Einverständnis des betroffenen Kindes unternommen. Es ist wichtig, zu verstehen, wie es dem Kind geht und welche nächsten Schritte erforderlich sind. Das Kind wird über mögliche Handlungsoptionen aufgeklärt, um ihm Sicherheit zu geben, insbesondere weil es durch das Mobbing einen Kontrollverlust erlebt hat.
Lehrer News: Wie kann Mobbing an Schulen nachhaltig verhindert werden?
Schläpfer: Mit einer wertschätzenden Schulhauskultur. Dies beinhaltet die Stärkung der sozialen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler sowie die Förderung eines respektvollen Umgangs miteinander, nicht nur unter den Kindern, sondern auch zwischen Lehrkräften und Eltern. Auf einem solchen Fundament kann Mobbing nur schwer gedeihen. Ich zeige den Lehrpersonen, wie sie diese Ansätze regelmäßig in den Unterricht integrieren können. Dabei geht es nicht nur darum, auf konkrete Vorfälle zu reagieren, sondern auch darum, täglich an der Verbesserung der Klassenatmosphäre zu arbeiten. Dies kann auf verschiedene Weise geschehen, sei es durch spielerische Aktivitäten, fächerübergreifende Projekte oder gemeinsame Initiativen, die das Miteinander fördern. Mobbingprävention ist ein fortlaufender Prozess und umfasst viel mehr als eine einmalige Präventionsstunde pro Jahr.
Lehrer News: Vielen Dank für das Gespräch!