Am 4. Januar 1809 wurde Louis Braille geboren. Im Alter von nur vier Jahren verletzte er sich in der Werkstatt seines Vaters mit einer Ahle am Auge. Dieser Unfall führte kurz darauf zu seiner vollständigen Erblindung. Braille wollte sich jedoch nicht mit den Nachteilen seiner Sehbehinderung abfinden, worauf er 1825 im Alter von gerade einmal 16 Jahren ein eigenes Schriftsystem entwickelte, mit dem sich Buchstaben durch die Kombination von jeweils sechs ertastbaren Punkten in Doppelreihen darstellen ließen – die Brailleschrift oder auch im Volksmund Blindenschrift genannt. Ihm zu Ehren erklärte die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Jahr 2018 den 4. Januar zum Internationalen Welt-Braille-Tag. Mit diesem Aktionstag soll mehr Aufmerksamkeit auf die zentrale Bedeutung der Blindenschrift und die Situation blinder und sehbehinderter Menschen gerichtet werden. Schließlich bedeutet die Brailleschrift neben Selbstbestimmung und Unabhängigkeit die Möglichkeit, mittels pädagogischer Förderung und Bildungskonzepte am Betrieb der allgemeinen Schulen teilnehmen zu können.
Wir von der Lehrer-News Redaktion möchten anlässlich des Welt-Braille-Tages genauer hinsehen und über die Lage blinder und sehbehinderter Schüler:innen in Deutschland berichten. Mit einem Blick auf die derzeitigen Entwicklungen von Inklusion und Integration in Förder- und allgemeinbildenden Schulen, sollen die Chancen und Herausforderungen der Schüler:innen aufgezeigt und die Umsetzung inklusiver Bildung innerhalb des Schulsystems beleuchtet werden.
In Deutschland besuchen laut Kultusministerkonferenz etwa 7.000 Kinder Schulen mit dem Förderschwerpunkt Sehen. Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) schätzt jedoch, dass es mindestens 14.000 blinde und sehbehinderte Schüler:innen bundesweit gibt. Berücksichtigt man diese Zahlen, sind das etwa 0,1 Prozent beziehungsweise 0,2 Prozent aller Schüler:innen in Deutschland. Angesichts dieses relativ kleinen Anteils werden deren Bedürfnisse von der Bildungspolitik nicht ausreichend umgesetzt. Dabei stehen für blinde und sehbehinderte Schüler:innen heute ausgereifte pädagogische Konzepte bereit, durch die sie genauso lernen können wie Kinder ohne Sehbeeinträchtigung. Dennoch stellt die Umsetzung der Inklusion an Schulen eine der größten bildungspolitischen und pädagogischen Entwicklungsaufgaben dar – warum ist das so? Der Bildungsbericht 2014 stellt die Errungenschaften und Herausforderungen in seinem Schwerpunktkapitel "Menschen mit Behinderungen im Bildungssystem" ausführlich dar. Die Kultusministerkonferenz hat mit der Empfehlung "Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen" vom 20. Oktober 2011 die Grundlage für ein höchstmögliches Maß an gleichberechtigter Teilhabe von Menschen mit und ohne Behinderungen an Bildung geschaffen. Die Empfehlung stellt die Rahmenbedingungen einer zunehmend inklusiven pädagogischen Praxis in den allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen dar. Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat auch den notwendigen Rahmen geschaffen, damit die Lehrkräfte die für inklusive Bildung nötigen Kompetenzen erwerben können. Von 1996 bis 2000 verabschiedete die KMK darüber hinaus Empfehlungen zu den spezifischen Förderschwerpunkten wie Lernen, Sprache, Sehen, Hören, geistige Entwicklung und weiteren. Die Empfehlungen zur inklusiven Bildung knüpfen an die Grundpositionen der Beschlüsse der KMK von 1994 an, die unter anderem den Rahmen für Ziele und Aufgaben in der Sonderpädagogik, der Realisierung sonderpädagogischer Förderung durch Erziehung im Unterricht und Förderschwerpunkte sowie dem Einsatz und der Qualifikation des Personals festlegen. Mit der Blindenschrift wird die Grundlage für den Förderschwerpunkt Sehen gebildet. Durch sie können blinde und sehbehinderte Schüler:innen lesen, schreiben und rechnen, Musik nach Noten spielen und komplizierte mathematische Formeln bearbeiten. Gleichzeitig wird ihr Tastsinn geschult, indem sie mit tastbaren Unterrichtsmaterialien, wie Landkarten oder naturwissenschaftlichen Modellen und Skizzen, eine bessere Vorstellung von der Welt bekommen. Das alles klingt in der Theorie zunächst sehr vielversprechend, doch in der Praxis sind die Errungenschaften in der Förderung und Bildung aktuell durch verschiedene reale Entwicklungen bedroht:
Wie bereits angesprochen, setzen diese sich zum einen aus angemessenen sozial- und bildungspolitischen Rahmenbedingungen zusammen. Bildungsangebote müssen demnach bundesweit in gleicher Mindestqualität zur Verfügung stehen und nicht nach Landesregelungen nach unten abweichen. Eine Finanzierung des Mehraufwands an Förderung, Lern- und Hilfsmitteln muss grundsätzlich ermöglicht werden, da eine Finanzierung einzelner Leistungen nicht ausreicht. Damit einhergehend muss Bildung für blinde und sehbehinderte Schüler:innen in Förderschulen und allgemeinbildenden Schulen personell und materiell gleichwertig ausgestattet werden. Die Schwerpunktsetzung auf pädagogische Kriterien bei der Wahl der Schulform durch die Schüler:innen und ihren Eltern sowie der Wechsel zwischen den Schulformen muss gewährleistet und darf in diesem Zusammenhang nicht durch finanzielle Aspekte außer Betracht gelassen werden. Der Verein Anderes Sehen setzt sich besonders stark für die Verbesserung beziehungsweise die Schaffung von Voraussetzungen, die zu einem selbstbestimmten Leben blinder und sehbehinderter Kinder führen sollen. Zu den Erfolgen zählen, dass die Kinder schon in den ersten fünf Lebensjahren mit Klicksonar, Blindenstockgebrauch, Punktschriftangebot und der Keine-Grenzen-Haltung gefördert werden. Außerdem haben sie die ersten inklusiven, für blinde Kinder frei verfügbaren, taktil illustrierten Bilderbücher und Erstlesebücher herausgebracht.
Weiterhin ist die Anerkennung und Implementierung einer Grundrehabilitation in den Bereichen “Lebenspraktische Fähigkeiten” und “Orientierung und Mobilität” besonders wichtig, damit sie ihr Leben so unabhängig und selbstständig gestalten können wie ihre Altersgenossen. Der Sportunterricht birgt weitere Problemfelder, da Bewegungserziehung gerade für Schüler:innen mit Seheinschränkung besonders wichtig ist und für die Kinder im normalen Umfang stattfinden muss. Das sollte idealerweise mit Sportarten, die für sie möglich sind und sie zudem in ihrer Bewegung, Körperkoordination und Orientierung fördern, erfolgen.
Lehrer:innen und Schulpädagog:innen müssen als Treiber von Inklusion und Integration blinder und sehbehinderter Schüler:innen an Förderschulen für Blinde und Sehbehinderte und auch für die Förderung an allgemeinen Schulen verstanden werden. Dafür müssen ausreichend qualifizierte Blinden- und Sehbehindertenpädagogen zur Verfügung stehen. Der Studiengang Blindenpädagogik ist ein Schwerpunkt im Rahmen der Sonderschullehrausbildung, erläutert Frank Laemers, Projektmitarbeiter der Fakultät für Rehabilitationswissenschaften an der Universität Dortmund. Mehrwöchige Praktika bilden eine weitere wichtige Säule während des Studiums, die sowohl im Bereich der allgemeinen als auch der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik liegen. Dennoch fehlt es wie so oft an Nachwuchskräften: "Der Arbeitsmarkt ist hervorragend.'' “Vor allem im Süden Deutschlands werde dringend nach Nachwuchs gesucht.'' “In der Zukunft werden wir einen Mangel an Blindenlehrern haben", so Professor Paul Nater vom Institut für Rehabilitationswissenschaften an der Humboldt Universität Berlin.
Karla Grasst, Lehrerin an einem Gymnasium, erinnert sich zurück. Sie war überrumpelt und fühlte sich überfordert, als ihr kurz vor Schuljahresbeginn mitgeteilt wurde, dass eine neue blinde Schülerin namens Lisa auf die Schule kommen würde. Dabei war ihr Inklusion selbst nicht fremd, regelmäßig unterrichtete sie das Thema “Behinderungen” im Biologieunterricht der Mittelstufe. Mithilfe von Schlafbrillen und Kopfhörern habe sie Inklusion von blinden beziehungsweise gehörlosen Schüler:innen in ihrer Klasse geübt. Der Alltag ist dann doch komplizierter als gedacht. Lisa braucht bei den vielen visuellen Eindrücken „Dolmetscher“, die beschreiben, was zu sehen ist. Manchmal sind das ihre Mitschüler, die sie auch in neue Klassenräume führen. Häufig sitzt neben Lisa dann doch der Förderlehrer oder ihre Schulbegleiterin, ausgestattet mit speziellen Hilfsmitteln für Sehbehinderte – zum Beispiel Extrazeichenbrettern. Darauf kann man Linien zeichnen, die emporgehoben sind, sodass Lisa mit den Fingern Diagramme ertasten kann. “Ich bin einfach nicht ausgebildet für Schüler mit Förderbedarf”, so Karla Grasst.
In Anbetracht dessen strebt die Modell-Leistungsbeschreibung “Bildung, Erziehung und Rehabilitation blinder und sehbehinderter Kinder und Jugendlicher in einer inklusiven Schule in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland - Standards, Spezifisches Curriculum” an, blinde und sehbehinderte Schüler:innen und ihre Eltern über die für sie vorgesehenen speziellen Förderungen zu informieren. Ferner brauchen Verantwortliche in Politik und Verwaltung Maßstäbe, welche Förderung gewährleistet werden muss und welche Maßnahmen gegebenenfalls zu ergreifen sind. Nicht zuletzt brauchen, wie der Fall von Karla Grasst gezeigt hat – vor allem Lehrkräfte und Blinden- und Sehbehindertenpädagog:innen – Richtlinien, die ihnen aufzeigen, welche Förderung sie blinden und sehbehinderten Lernenden anbieten müssen.
Was bleibt, ist die unbequeme Frage, ob unser Bildungswesen an der Aufgabe “Inklusion” gescheitert ist? Inklusion kann nicht von heute auf morgen in das bestehende Schulsystem eingeführt werden – soweit nichts Ungewöhnliches – es bedarf der Bereitschaft verschiedener Verantwortungsträger aus Politik, Verwaltung und Gesellschaft. Durch die kontinuierliche Weiterbildung von Lehrkräften und Pädagog:innen, und der frühzeitigen Aufklärung hinsichtlich Schüler:innen mit Behinderungen und Prävention von Diskriminierung in Regelschulen, soll die Teilhabe innerhalb der Klassengemeinschaft sichergestellt werden. Blinde und sehbehinderte Schüler:innen meistern enorme Herausforderungen, um mit dem Unterricht an allgemeinen Schulen Schritt zu halten. Damit ihr Schulbesuch künftig noch inklusiver wird, bedarf es der Adaptivität von Bildungsinhalten durch zum Beispiel taktile Zeichentafeln und alternativen Lernangeboten, die von Lehrer:innen gemeinsam mit Sonderpädagog:innen oder Assistenzkräften erabeitet und an die Bedürfnisse der Kinder angepasst werden. Dies setzt wiederum voraus, dass deutlich mehr Gelder für Ausbildung und Zusatzqualifikation der Lehrkräfte in die Hand genommen werden. Diese erworbenen sonderpädagogischen Kenntnisse können dann wiederum im Unterricht entfaltet werden. Das bedeutet jedoch, dass wir gleichzeitig mehr Investitionen in barrierefreie Räume und gute technische Ausstattungen an Schulen benötigen, um intensive sonderpädagogische Bildung praktisch umsetzen zu können.
Wir haben also wichtige Schritte in eine positive Richtung gemacht, jedoch gilt es diese nun auszubauen, damit bald einmal jedes Kind dieselben Chancen auf eine gute, inklusive und erfolgreiche Teilnahme in der Schule bekommt.