Bildungspioniere im Baltikum: Estland setzt auf Chancengleichheit

Eine wehende estländische Flagge

Estlands Flagge weht hoch im Wind der Bildung (Quelle: Pixabay)

Unsere Bildungsreise um die Welt hat uns bereits durch die Klassenzimmer der Vereinigten Staaten, Kuba, Vietnam, Japan, Frankreich, Portugal, Belgien, Schweden und Finnland geführt. Jedes Land hat seine einzigartigen Ansätze und Herausforderungen in der Bildung. Heute setzen wir unsere Reise fort und landen in einem kleinen, aber bemerkenswerten Land im Nordosten Europas – Estland. Bekannt für seine digitalisierte Gesellschaft und seine mittelalterliche Architektur, hat Estland in den letzten Jahren auch aufgrund seiner beeindruckenden Bildungserfolge internationale Anerkennung gefunden.

Die estnischen Schüler:innen haben in den PISA-Studien hervorragende Ergebnisse erzielt, die überdurchschnittlich gut waren. Aber was ist das Geheimnis ihres Erfolgs? Wie schafft es ein kleines Land wie Estland, in der Bildung so gut abzuschneiden? In diesem Artikel werden wir einen Blick auf das estnische Bildungssystem werfen, seine Stärken und Herausforderungen analysieren und versuchen, das Rätsel zu lösen, wie Estland es schafft, bei PISA so gute Ergebnisse zu erzielen. 

Estland und PISA

Die ersten 5 Plätze im PISA Ranking 2022 (Quelle: Destatis)

Estland hat sich in den letzten PISA-Studien als führendes europäisches Land etabliert. In der PISA-Studie 2022 erreichte Estland europaweit die besten Ergebnisse. Besonders bemerkenswert ist, dass Estland weltweit nur hinter Singapur, Japan und Südkorea lag. Im Vergleich zu Deutschland und anderen größeren EU-Ländern hat Estland deutlich bessere Ergebnisse erzielt. Diese Leistung ist umso beeindruckender, wenn man bedenkt, dass Estland sich im Laufe der Zeit stetig verbessert hat und inzwischen selbst die Vorreiter der letzten Jahre aus Skandinavien hinter sich gelassen hat.

So ist Estlands Bildung strukturiert

Zum Vergrößern auf die Grafik klicken (Quelle: Informationsportal für ausländische Berufsqualifikationen)

Das estnische Bildungssystem ist zentral organisiert, das Parlament gibt die Struktur vor und diese wird vom Bildungs- und Forschungsministerium umgesetzt.  Das System besteht aus verschiedenen Stufen: Vorschulische Bildung, Grundbildung an Grundschulen (põhikool), allgemeine Sekundarbildung an Gymnasien (gümnaasiumis), berufliche Bildung an Berufsschulen (kutseõppeasutus), Hochschulbildung an beruflichen Hochschulen (rakenduskõrgkoolid) und Universitäten (ülikoolid).

Dennoch genießen Schulen in Estland eine weitreichende Autonomie. Der nationale Lehrplan lässt den Schulen Raum, um ihren eigenen Lehrplan zu entwickeln. Schulen können ihre Ziele und den Schwerpunkt ihres Unterrichts selbst festlegen. Schulleitungen können Lehrkräfte einstellen und entlassen, entscheiden, wie das Budget verteilt wird und wie sie den Bedarf an Lehrerfortbildung einschätzen. Weiterhin wählen die Lehrkräfte geeignete Lehrbücher und Unterrichtsmethoden aus, die sie in ihrem Unterricht verwenden möchten.

Die vorschulische Bildung in Estland beginnt bereits im Kindergarten, der als Bildungseinrichtung mit Lehrplan und Qualifikationsanforderungen für Pädagog:innen verstanden wird. Bereits ab dem Alter von drei Jahren werden in den Kindergärten systematisch die ersten Grundlagen für Rechnen und Lesen gelegt. Der Besuch eines Kindergartens ist allerdings nicht verpflichtend. 

Nach dem Kindergarten folgt die Grundschule, die als “põhikool” bezeichnet wird. Hier wird die grundlegende Bildung bis zur neunten Klasse fortgesetzt. Besonders ist, dass alle estländischen Schüler:innen bis zur neunten Klasse gemeinsam und ohne Leistungsdifferenzierung unterrichtet werden. Nach dieser Phase entscheiden sie, ob sie einen Abschluss der Sekundarstufe II (Dauer: drei Jahre) anstreben oder die Schule verlassen wollen. Unabhängig von ihren Noten erhalten Schüler:innen, die ein Gymnasium besuchen möchten, einen Platz. Zusätzlich sind alle Schulmaterialien, sowie der Schulbus, das Schulessen und verschiedene Lern- und Freizeitaktivitäten für alle bis zur neunten Klasse komplett kostenfrei.

Bereits in der Sekundarstufe I haben die Schüler:innen die Möglichkeit, einzelne berufsbildende Kurse zu belegen. Nach Abschluss der Sekundarstufe I können sie entweder eine allgemeinbildende Schule der Sekundarstufe II, das “gümnaasium”, oder eine Berufsschule der Sekundarschule II, das “kutseõppeasutus”, besuchen. Etwa 70 Prozent aller Schüler:innen besuchen das “gümnaasium”. Die allgemeine Mindestzugangsvoraussetzung für eine Berufsausbildung der Sekundarstufe II ist das Abschlusszeugnis der Sekundarstufe I (“põhikooli lõputunnistus”) oder das Erreichen des 16. Lebensjahres.

Jeder bekommt die Förderung, die er benötigt

Alle Kinder haben bis zum siebten Lebensjahr Anspruch auf Betreuung, beispielsweise in einer Kindertagesstätte. Die Kosten für einen Kitaplatz dürfen nicht mehr als 20 Prozent des gesetzlichen Mindestlohns betragen, um die finanzielle Belastung für die Eltern in Grenzen zu halten. Die Mehrheit der Kinder, etwa acht von zehn, besuchen vor dem Schulbeginn eine Kita. Estnische Kitas unterscheiden sich in ihrer Struktur und ihrem Ansatz von deutschen Kitas und Kindergärten. Sie folgen nationalen Lehrplänen, ähnlich wie Schulen. Die Erzieher:innen haben in der Regel einen Hochschulabschluss und führen ein spezielles Schulvorbereitungsprogramm durch, das für alle fünf- und sechsjährigen Kita-Kinder verpflichtend ist. Dieses Programm stellt sicher, dass alle Kinder bei der Einschulung einen ähnlichen Wissensstand haben. So wird in Estland von Anfang an ein solides Fundament für den Bildungserfolg jedes Kindes gelegt.

In Estland lernen alle bis zur neunten Klasse zusammen in einer sogenannten Einheitsschule, ähnlich einer deutschen Grundschule. Dieses Modell, bei dem Schüler:innen nicht früh nach ihrem Leistungsniveau aufgeteilt werden, wird als einer der Hauptgründe für den Bildungserfolg des Landes angesehen. Besondere Unterstützung erhalten diejenigen, die sie am meisten benötigen, durch speziell eingerichtete Beratungszentren, die in Europa einzigartig sind. Estland ist bekannt für ein Bildungssystem, das auf individueller Förderung und Chancengleichheit basiert. Die individuelle Unterstützung der Schüler:innen trägt dazu bei, dass es weniger leistungsschwache und mehr leistungsstarke Schüler:innen gibt. Lehrkräfte haben die Freiheit, ihren Unterricht an die Bedürfnisse ihrer Klasse anzupassen, was zu hervorragenden akademischen Leistungen führt.

Ein Stück sozialistische Tradition gehört auch zum Erfolg: Die Lehrkräfte, insbesondere die der älteren Generation, spielen eine entscheidende Rolle in diesem System. Sie nehmen ihre Aufgabe, Wissen zu vermitteln, sehr ernst und übernehmen Verantwortung, wenn etwas schiefgeht. Sie treffen sich mit Schüler:innen auch außerhalb der Unterrichtszeit, um individuelle Unterstützung zu bieten, und helfen leistungsschwachen Kindern und Jugendlichen dabei, sich zu verbessern. Trotz der Herausforderungen, die mit der Arbeit in großen Klassen verbunden sind, spiegelt diese engagierte Arbeitshaltung das allgemeine Ethos Estlands von Ehrgeiz und Disziplin wider. Dieses Ethos wird jedoch zunehmend von jüngeren Esten und Lehrkräften hinterfragt, die eine gesündere Work-Life-Balance fordern.

Trotz dieser Spannungen ist Estland EU-Spitzenreiter in Sachen Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit. Mit nur 4,7 Prozent leistungsschwachen und 20 Prozent leistungsstarken Schüler:innen ist Estland auf dem besten Weg, ein Vorzeigeland für Bildung zu werden. Dies ist umso bemerkenswerter, da  Estland zu den ärmsten OECD-Ländern gehört und das Budget für Bildung deutlich unter dem OECD-Durchschnitt liegt. 

Großer Lehrkräftemangel auch in Estland

Auch Estland hat mit Lehrermangel zu kämpfen, der Mangel ist größer, als man zuerst annahm. 2005 waren bereits 20 Prozent der Lehrkräfte in allgemeinbildenden Schulen über 55 Jahre alt, bis 2015 stieg dieser Anteil auf 28 Prozent und 2021 auf 34 Prozent. Der Lehrermangel ist besonders akut in den Natur- und Wissenschaftsfächern, da jede:r fünfte Lehrer:in für Mathematik, Chemie, Geografie und Biologie und jede vierte Physiklehrkraft 60 Jahre oder älter ist. Das Lehrpersonal in den Schulen der großen Städte ist im Durchschnitt jünger als das in ländlichen Gebieten. Trotz einer kürzlichen starken Zunahme gehören die tatsächlichen Gehälter der Lehrkräfte zu den niedrigsten im OECD-Vergleich. Bei der frühkindlichen Bildung hingegen hat Estland relativ hohe Ausgaben im Vergleich zu anderen Ländern.

Im Februar hat das Foresight Centre hat in einem Bericht festgestellt, dass es heute in Estland 2300 Personen gibt, die eine Lehrerausbildung abgeschlossen haben, aber nicht als Lehrkraft arbeiten, was 14 Prozent der derzeitigen Gesamtzahl der Lehrer:innen entspricht. Jedes Jahr verließen durchschnittlich 1500 Lehrkräfte die Schulen in Estland entweder vorübergehend oder dauerhaft. Diejenigen, die in den letzten fünf Jahren gegangen sind, seien jedoch Teil des wertvollsten Lehrerreservoirs. Mehr als die Hälfte dieses befände sich in Tallinn und Tartu, genau dort, wo die Arbeitsüberlastung und der Lehrermangel am größten seien.

Junge Lehrkräfte blieben nicht im Beruf, ein Drittel der neuen Lehrkräfte den gibt den Job bis zum Ende der ersten drei Jahre auf. Dies spiegelt auch breitere Trends im Verhalten jüngerer Generationen auf dem Arbeitsmarkt wider, mit häufigen Arbeitsplatz- und Karrierewechseln. Das Profil der Schüler:innen habe sich ebenfalls verändert – Umfragen zeigen zunehmend, dass herausforderndes Verhalten im Klassenzimmer und Disziplinprobleme sowie überkritische Eltern der Hauptgrund sind, warum junge Lehrkräfte den Beruf verlassen, und nicht mehr wegen der niedrigen Gehälter.

Estland als digitales Vorbild?

Schon 1994 erkannte Estland die Digitalisierung als Zukunftsträger und begann, die Grundprinzipien einer estnischen Informationsgesellschaft festzulegen. Heute sind bereits 99 Prozent der Verwaltungsgänge des Landes digitalisiert. Estland startete die schulische Digitalisierung mit dem Start des Programms Tiger Leap (Tiigrihüpe) im Jahr 1996, mit dem primären Ziel, moderne IT-Infrastruktur landesweit zu etablieren. Seit 1999 verfügt jede estnische Schule über Internetzugang. Seit 2015 hat eine EU-finanzierte Modernisierungsinitiative die Infrastruktur der Schulen weiter vorangetrieben und bietet wichtige Hardware wie Glasfasernetzwerke, Router und WLAN-Zugangspunkte. Derzeit profitieren alle estnischen Schulen von einer Hochgeschwindigkeits-Internetverbindung, wobei etwa 75 Prozent über Glasfaser verbunden sind. 

Seit 2002 können Lehrkräfte im digitalen KlassenbucheKool” Hausaufgaben erteilen, Noten und Abwesenheit der Schüler:innen dokumentieren und sich mit Eltern austauschen. Mit dem Programm sollen Lehrkräfte etwa die Hälfte an täglicher Zeit für Verwaltungsarbeit eingespart haben – täglich ca. 45 Minuten. Ein Computer am Lehrerpult und ein Beamer oder Smartboard gehören zur standardmäßigen Ausstattung eines jeden Klassenzimmers. Schulen beschäftigten oft Bildungstechnolog:innen, die die Lehrkräfte beim Medieneinsatz unterstützen und die Wartung der Geräte und Software übernehmen. 

Damit die Lehrkräfte fit in Sachen Digitalisierung sind, hat Estlands Forschungs- und Forschungsministerium schon früh großen Wert auf Weiterbildung gelegt. Heute verfügt in der estnischen Hauptstadt Tallinn bereits jede Schule über einen eigenen 3D-Drucker. Darüber hinaus werden an vielen Schulen Wahlfächer wie Robotik und Programmieren angeboten. Die Schüler:innen und Schüler sollen lernen, mit der Technologie umzugehen und sie zum Lernen zu nutzen. Dafür verfügt jede Schule über ausreichend Tablets und Laptops, die Kinder und Jugendlichen dürfen aber auch mit ihren Smartphones arbeiten. Kinder kommen bereits ab der dritten Klasse mit Programmieren in Kontakt, 2020 war das Studienziel Nummer 1 Informatik. 

Alexander Brand, der sich das estnische Schulsystem vor Ort angesehen hat, war verwundert, dass der Einsatz von Technologie im Unterricht doch keine so große Rolle spielte, wie er erwartet hatte. Der Technikeinsatz, abgesehen von IT-nahen Fächern, war nicht so intensiv, wie man es von einem digitalen Vorreiterland vielleicht erwarten würde. Lehrkräfte nutzten digitale Medien hauptsächlich zur Präsentation, zur Auflockerung einer Stunde oder um Schüler:innen mit spezieller Lernsoftware üben zu lassen. Der Einsatz digitaler Werkzeuge zur kooperativen Arbeit oder für Projekte war dagegen selten. Der Unterricht wurde hauptsächlich von der Lehrkraft geleitet. Im Unterricht lag der Fokus jedoch auf dem Fachlichen. Es gab wenig Gruppenarbeit, wenig Differenzierung, aber viel gezieltes Üben – oft mit schwierigeren Aufgaben als in Deutschland. 

Was wir von Estland lernen können

In seinem Artikel hat Ralph Gehrke eine Reihe von Veränderungen vorgeschlagen, die im deutschen Schulsystem implementiert werden könnten, um es nach dem estnischen Vorbild zu gestalten. Diese umfassen: die Fokussierung auf Kernfächer, die Autonomie der Schulen, die Integration der Vorschule in den Kindergarten, die kostenlose Bildung und Freizeit, die Digitalisierung, der allgemeinbildende Religionsunterricht ohne Konfessionsbindung, Extrakurse 'Deutsch als Zweitsprache' für Kinder, die die deutsche Sprache nicht ausreichend beherrschen, die Beibehaltung der Förderschulen und die Barrierefreiheit an Regelschulen für rein körperbehinderte Kinder.

Die Übernahme des estnischen Modells oder Teilen davon durch andere Länder, einschließlich Deutschland, ist eine Möglichkeit, die jedoch sorgfältig geprüft und an den lokalen Kontext angepasst werden muss. Es ist nicht nur eine Frage der Machbarkeit, sondern auch der Sinnhaftigkeit. Für Deutschland würde dies bedeuten, tiefgreifende Veränderungen in mehreren Bereichen des Bildungssystems vorzunehmen. Die Frage der Machbarkeit ist jedoch komplex. Es erfordert nicht nur finanzielle Ressourcen, sondern auch politischen Willen und gesellschaftliche Akzeptanz. Die Sinnhaftigkeit einer solchen Übernahme hängt von den spezifischen Zielen ab, die Deutschland mit seiner Bildungspolitik verfolgt. Wenn das Ziel ist, die akademischen Leistungen zu verbessern und die Bildungsgerechtigkeit zu fördern, dann könnten einige Aspekte des estnischen Modells durchaus sinnvoll sein.

Unabhängig von diesen Überlegungen bleibt Estlands Erfolg ein leuchtendes Beispiel dafür, wie Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit zu hervorragenden akademischen Leistungen führen können. Es zeigt, dass es möglich ist, ein zentral organisiertes, aber dennoch flexibles Schulsystem zu schaffen, das individuelle Förderung und Chancengleichheit fördert und engagierte Lehrkräfte hat. Dies ist eine Lektion, die wir alle berücksichtigen sollten, unabhängig davon, ob wir das estnische Modell übernehmen oder nicht.

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