Hohe Belastung: Neue Prüfungskultur im Referendariat gefragt

Von
Marie-Theres Carl
|
25
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May 2024
|
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Eine junge Frau sitzt nachdenklich über einem Buch, sie hat einen Stift in der Hand

(Quelle: Unsplash)

Björn Nölte, ehemaliger Seminarleiter und Mitbegründer des Instituts für zeitgemäße Prüfungskultur, hat in einem Gastbeitrag für das Deutsche Schulportal eine neue Prüfungskultur im Referendariat gefordert. Aktuelle Daten aus Hamburg zeigen, dass 70 Prozent der Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst gesundheitlich beeinträchtigt sind und jeder Zweite die Prüfungsverfahren als intransparent empfindet. In seinem Beitrag beschreibt Nölte die Missstände und schlägt konkrete Änderungen vor. 

Eine bisher unveröffentlichte Gefährdungsbeurteilung des Hamburger Landesinstituts für Lehrerbildung und Schulentwicklung (LI) hat alarmierende Befunde über die Belastungen im Referendariat hervorgebracht. Die Gefährdungsbeurteilung lag im Februar dem Hamburger Abendblatt exklusiv vor. Die Befragung unter Hamburger 465 Referendar:innen ergab, dass sich 70 Prozent gesundheitlich beeinträchtigt fühlen, 19 Prozent sogar stark beeinträchtigt. Im Vergleich zu einer ähnlichen Befragung im Jahr 2017 haben sich die Bedingungen zum Teil deutlich verschlechtert. 

Besonders besorgniserregend ist die Tatsache, dass sich 38 Prozent der Befragten angaben, dass sich ihre psychische Gesundheit seit Beginn des Referendariats deutlich verschlechtert habe. 41 Prozent bemerkten eine leichte Verschlechterung. Etwa ein Viertel gab an, sich nicht erneut für den Beruf Lehrkraft entschieden zu wollen. Auch die Transparenz der Prüfungsverfahren wird kritisch gesehen, nur 49 Prozent halten sie für ausreichend, und 63 Prozent fühlen sich dadurch zusätzlich belastet. Lediglich 31 Prozent empfunden die Vorbereitungszeit für Hospitationen als angemessen, während 81 Prozent sich dadurch belastet fühlen.  

Nölte berichtet, dass das komplexe Beziehungsmanagement im Vorbereitungsdienst viele stark beanspruche. Die pädagogische Beziehung zu den Schüler:innen, aber auch die professionelle Kommunikation mit Mentor:innen, Eltern und Kollegium stellten hohe emotionale Anforderungen. Diese Konflikte und die Unsicherheit darüber, wessen Erwartungen in welcher Reihenfolge zu erfüllen seien, würden erheblich zur psychischen Belastung beitragen. 

Weiterhin sei die Unvereinbarkeit von Beruf und Privatleben ein großes Problem. Oft würden Hobbys und sportliche Aktivitäten häufig aufgegeben, dabei belaste das Referendariat auch private Beziehungen. Weiterhin verstärke sich der Stress durch “additive Veränderungsstrategien”, z.B. die Nutzung zusätzlicher Beratungsangebote oder längere Vorbereitungszeiten für Unterrichtsbesuche. Diese Maßnahmen führten zu noch mehr Arbeitsbelastung. Besonders problematisch sei die mangelnde Transparenz der Prüfungsverfahren, die oftmals ein Gefühl des Ausgeliefertseins hervorrufen würde. 

Prüfungen und Noten stehen ebenfalls im Zentrum des Referendariats, da sie oft über den Zugang zu den besten Stellen entscheiden. Diese Ausrichtung prägt den Verlauf der Ausbildung von Anfang an. Das Referendariat stellt angehende Lehrkräfte vor eine komplexe Herausforderung, bei der sie kontinuierlich abwägen müssen, welche Aufgaben vorrangig sind. Die vorherrschende Prüfungskultur bewirke, dass Referendar:innen sich deshalb vorrangig auf Tätigkeiten konzentrieren, die sich positiv auf ihre Bewertung auswirken. Schulen mit innovativen Strukturen sehen sich zudem mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass das Ausbildungssystem weiterhin stark an traditionellen 45-Minuten-Stunden festhält. 

In Anbetracht der aktuellen Belastungen im Referendariat plädiert Nölte für eine grundlegende Neuausrichtung des Ausbildungssystems. Er hebt hervor, dass es nicht nur darum gehen sollte, neue Maßnahmen zu implementieren, sondern auch bestehende, möglicherweise überflüssige, Strukturen abzubauen. "Statt zu fragen: Was können wir als Nächstes einführen, um das Ausbildungssystem zu verbessern, können wir auch fragen: Was können wir weglassen?". Folgende Reformen hält er deshalb für zielführend:

  1. Anpassung an offenere Lernformen: Die Ausbildung sollte Raum für flexiblere Unterrichtsformen bieten, die sich nicht nur an traditionellen Strukturen orientieren. Digitale Planungstools könnten dabei helfen, formative Feedbackprozesse zu ermöglichen.
  2. E-Portfolios: Die Einführung von digitalen Portfolios ermöglicht eine prozessorientierte Begleitung der Referendar:innen und eine umfassendere Darstellung ihrer Kompetenzen. Diese können individuell gestaltet, geteilt und für Feedback genutzt werden, auch über die Ausbildung hinaus.
  3. Bestanden / Nicht bestanden statt Noten: Die Umstellung von Ziffernnoten auf Pass/Fail-Zeugnisse könnte Stress reduzieren und eine präzisere Bewertung der Eignung der Referendare ermöglichen, insbesondere in Verbindung mit aussagekräftigen E-Portfolios.
  4. Kollaboration: Die Förderung von Zusammenarbeit und Team-Teaching könnte Prüfungsstress reduzieren und eine realitätsnähere Ausbildungssituation schaffen, in der individuelle Stärken besser zur Geltung kommen können.
  5. Eigenverantwortung: Die Möglichkeit für Referendare, eigene Schwerpunkte zu setzen und ihre Ausbildung mitzugestalten, kann zu einer effektiveren Entwicklung beitragen und den Lernerfolg fördern.
  6. Subtraktive Veränderung: Durch eine kritische Überprüfung und ggf. Reduktion bestehender Strukturen und Praktiken kann das Ausbildungssystem effektiver und weniger belastend gestaltet werden. Es sollte stets hinterfragt werden, ob bestimmte Elemente tatsächlich zur Entwicklung der Referendare beitragen oder ob sie überflüssig sind.

Der Handlungsbedarf im Referendariat ist klar erkennbar, und erste Schritte zur Entlastung der Referendar:innen in Hamburg sind bereits eingeleitet. Durch verstärkte Maßnahmen zur Lehrkräftegesundheit, mehr Transparenz und die Reduzierung des Vorbereitungsaufwands soll die Belastung im Vorbereitungsdienst verringert werden. Die Abschaffung der schriftlichen Abschlussarbeit und die Konzentration auf zwei Prüfungsteile stellen weitere Schritte zur Entlastung dar.

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